VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 11.11.2005 - M 23 K 03.52479 - asyl.net: M8016
https://www.asyl.net/rsdb/M8016
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Gebietsgewalt, Schutzfähigkeit, Warlords, Sicherheitslage, Kabul, Situation bei Rückkehr, Erpressung, Entführung, Plünderung, Versorgungslage, medizinische Versorgung, alleinstehende Personen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.

Ein genereller Abschiebestopp oder ein vergleichbarer Schutz besteht nicht, obwohl eine extreme allgemeine Gefahrenlage für Afghanistan derzeit anzunehmen ist.

a) Im Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 AsylVfG) existiert kein rechtsverbindlicher Erlass, der den Ausländerbehörden eine Abschiebung afghanischer Flüchtlinge zwingend verbietet.

Der nach bayerischer Erlasslage bestehende Abschiebungsschutz ist entfallen. Gemäß Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 17. 7. 1998 in der Fassung vom 8. 2. 1999 wurden Duldungen von vollziehbar ausreisepflichtigen afghanischen Staatsangehörigen für die Dauer von sechs Monaten erteilt. Mit IMS vom 22. 12. 2003 wurde die Geltungsdauer des Rundschreibens vom 17. 7. 1998 in der Fassung der ersten Ergänzung vom 8. 2. 1999, zuletzt geändert mit IMS vom 23. 6. 2003, bis zum 1. 7. 2004 verlängert, und zwar unter Bezugnahme auf Nr. 2. 3. 8 der Richtlinien für die Wahrnehmung und Organisation öffentlicher Aufgaben sowie für die Rechtsetzung im Freistaat Bayern (Organisationsrichtlinien - OR, Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 6. 11. 2001 - Nr. B III 2-155-9-33 - AllMB Nr. 12/2001, Seite 634 f.). Eine weitere, ausdrückliche Verlängerung der Geltungsdauer des Rundschreibens vom 17. 7. 1998 in der Form eines IMS ist nicht erfolgt. Demzufolge ist gemäß Nr. 2. 3. 8 OR der Erlass nach Ablauf der Befristung am 1. 7. 2004 außer Kraft getreten.

Dass ein Abschiebestopp nicht (mehr) besteht, ergibt sich im Übrigen ausdrücklich und zweifelsfrei aus dem IMS vom 4. 5. 2005, wonach "in den nächsten Wochen" mit der Rückführung begonnen werden soll. Schließlich ergibt sich auch aus dem IMS vom 3. 8. 2005 eindeutig, dass ein allgemeiner Abschiebestopp nicht mehr besteht, vielmehr heißt es dort (unter II. Rückführungsgrundsätze, 1. Allgemeines), dass "Rückführungen nach Afghanistan in überschaubarer Größenordnung nunmehr möglich sind". Zwar enthält das IMS vom 3. 8. 2005 unter 1. eine Bleiberechtsregelung in Form einer Anordnung nach § 23 Abs. 1 S. 1 AufenthG; demzufolge ist der Personenkreis, der hierunter fällt, nicht von einer Abschiebung bedroht, weshalb diese Personengruppe in einem Gerichtsverfahren einen Schutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht erfolgreich geltend machen könnte. Die Kläger fallen allerdings nicht unter diese in dem IMS vom 3. 8. 2005 näher umschriebene Personengruppe. Weiterhin unterscheidet das IMS vom 3. 8. 2005 zwischen den Personen, die vorrangig zurückzuführen sind und den Personen, deren Rückführung keinen Vorrang genießt und stellt jeweils Grundsätze für die aufenthaltsrechtliche Behandlung dieser Personengruppen auf.

Wörtlich heißt es dort: "Im Hinblick auf die begrenzten Rückführungskapazitäten muss die Rückführung von Personen, deren Rückführung keinen Vorrang genießt, zunächst zurückgestellt werden." Daraus folgt, dass beim Eintritt des zwar, wie zuzugeben ist, unwahrscheinlichen, aber ersichtlich nicht unmöglichen Falles, dass sich die Rückführungskapazitäten im Laufe der Zeit als weniger begrenzt als derzeit angenommen entwickeln, ohne weiteres auch eine früher als jetzt angenommene Rückführung des Personenkreises der nicht vorrangig Zurückzuführenden möglich sein kann, zumal wenn bei den durch die Ausländerbehörden erteilten Duldungen mit der auflösenden Bedingung der Möglichkeit der Rückführung gearbeitet wird, was das IMS nicht etwa ausschließt und was nach der Erfahrung des Gerichts tatsächlich geschieht. Insgesamt weist demzufolge das IMS vom 3. 8. 2005 auch bezüglich des Personenkreises, dessen Rückführung keinen Vorrang genießt, keine für die Auslegung als Regelung i.S.v. § 60 a Abs. 1 S. 1 AufenthG erforderliche Verbindlichkeit auf.

b) Die Kläger wären bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort gegebenen Verhältnisse auch einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt, die ihre Abschiebung bei verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verbietet (vgl. BVerwG, Urt. v. 8. 12. 1998 - 9 C 4/98 -, BVerwGE 108, 77 = DVBl 1999, 549 = InfAuslR 1999, 266).

Eine staatliche oder staatsähnliche Gewalt, die bereit und in der Lage wäre, den Klägern Schutz zu gewähren, besteht derzeit in Afghanistan nicht (so z. B. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28. 4. 2005 - 5a K 2728/98.A -; Urt. v. 11. 11. 2004 - 5a K 3631/95.A -; VG Saarland, Urt. V. 14. 7. 2005 - 6 K 22/05.A -; VG Neustadt a. d. Weinstraße, Urt. v. 7. 3. 2005 - 5 K 2326/04.NW -; VG Berlin, Urt. v. 5. 3. 2004 - 33 X 251.03 -, juris; in diese Richtung, wenn auch im Ergebnis offen gelassen, etwa OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 20. 3. 2003 - 20A 4270/97.A -, juris; vgl. auch VG Sigmaringen, Urt. v. 18. 7. 2005 - A 2 K 11626/03 -, juris; offengelassen neuerdings auch von BVerwG, Urt. v. 1. 11. 2005 - 1 C 21/04 -, insbesondere S. 12/13 UA).

Nach Einschätzung des Gerichts übt aber auch die derzeitige Regierung unter Präsident Hamid Karsai keine staatliche Gewalt in Afghanistan aus. Die erforderliche Gebietsgewalt im Sinne einer wirksamen hoheitlichen Überlegenheit im Innern des Landes liegt trotz der Bildung der Übergangsregierung im Dezember 2001, ihrer Bestätigung durch die sog. Loya Jirga im Juni 2002, der am 9. 10. 2004 erfolgten Präsidentschaftswahl, der am 18. 9. 2005 abgehaltenen Parlamentswahl sowie des Einsatzes der Schutztruppen der International Security Assistance Force (ISAF) zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) nicht vor. Das ergibt sich aus der Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel.

Die Sicherheitslage hat sich, trotzdem die Regierung von Präsident Karsai nun bereits seit geraumer Zeit amtiert, landesweit - auch in jüngster Zeit - nicht verbessert, in mancher Hinsicht sogar verschlechtert.

Nimmt man den Raum Kabul zunächst von den Betrachtungen aus, lässt sich diagnostizieren, dass landesweit eine de-facto Gebietsgewalt eindeutig nicht vorliegt. Die Regierung Karsai besitzt zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder in Afghanistan noch in einem Teil Afghanistans ein Gewaltmonopol. Sie ist nicht einmal ansatzweise in der Lage, sich in den einzelnen Landesteilen gegenüber den sog. Warlords (Kriegsfürsten, Lokalherrschern, Stammesfürsten) durchzusetzen.

Andererseits kann nicht in einem oder mehreren einzelnen Landesteilen eine staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsmacht eines oder mehrerer Lokalherrscher angenommen werden. Zwar ist für eine staatsähnliche Herrschaftsmacht weder erforderlich, dass sie das gesamte Staatsgebiet erfasst, noch dass sie die einzige auf dem Staatsgebiet existierende Gebietsgewalt ist (BVerwG, Beschl. v. 26. 1. 1999 - 9 B 655/98 -, NVwZ 1999, 544 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 202 = InfAuslR 1999, 283). Allerdings üben in Afghanistan zahlreiche Lokalherrscher in bestimmten Territorien Macht aus, so dass die jeweils territorial begrenzte Macht nicht auf nur eine überschaubare Zahl von wenigen Lokalherrschern verteilt ist, die das gesamte Land oder einen Großteil davon unter ihrer Kontrolle haben. Deswegen kann nicht von einem Herrschaftsgefüge in einem territorial abgrenzbaren Kernterritorium gesprochen werden, was für dieses oder jenes Gebiet zur Annahme einer staatlichen Herrschaftsmacht führen würde.

Nach Überzeugung des Gerichts liegen die Voraussetzungen nicht vor, um Kabul als ein von der Zentralregierung Karsai beherrschtes Kernterritorium im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 10. 8. 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521) anzuerkennen.

Zwar erscheint es bereits fraglich, ob es für die Annahme einer Staatlichkeit oder Quasi-Staatlichkeit genügte, dass wenigstens im Raum Kabul eine ausreichende Herrschaftsmacht der Regierung Karsai besteht. Denn angesichts der räumlichen Ausdehnung des Großraums Kabul im Vergleich zum restlichen Afghanistan erscheint es als sehr fraglich, ob diesbezüglich von einer staatlichen Herrschaftsmacht in einem Kernterritorium gesprochen werden kann.

Dies kann jedoch offen bleiben, da nicht einmal für den Raum Kabul eine ausreichende eigenständige Herrschaftsmacht der Regierung Karsai besteht. Jedenfalls bislang hat die Regierung Karsai kein Herrschaftsgefüge von hinreichender Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung errichten können.

Weil eine schutzbereite und -fähige staatliche oder staatsähnliche Gewalt gegenwärtig in Afghanistan nicht existiert (vgl. dazu ausführlich die obigen Nachweise), sind Auslandsafghanen und Rückkehrer - über den praktisch landesweit herrschenden Zustand allgemeiner und weitgehender Rechtlosigkeit hinaus - typischer Weise Opfer von Plünderungen, Entführungen und Gelderpressungen (vgl. VG Wiesbaden Beschl. v. 21. 11. 2003 - 7 E 2304/03.A -; VG Dresden, Urt. v. 18. 11. 2003 - A 7 K 30988/2 -; Bayerisches Verwaltungsgericht München, Urt. v. 24. 1. 2005 - M 23 K 03.52000 -). Landesweit wird über etliche Fälle von Plünderungen und Erpressungen von Geld berichtet, wobei Opfer häufig Binnenvertriebene und Rückkehrer sind, von denen angenommen wird, dass sie über finanzielle Ressourcen und/oder Rückkehrbeihilfen verfügen (Lagebericht a.a.O., Seite 14).

Die allgemeine Lage in Afghanistan einschließlich des Großraums Kabul ist katastrophal. Funktionierende Verwaltungsstrukturen fehlen; es kann auch nicht von einem nur ansatzweise funktionierenden Justizwesen gesprochen werden (Lagebericht a.a.O., Seite 5). Der praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen ist nicht überwunden (Lagebericht a.a.O., Seite 9).

Kabul wurde nach der Vertreibung der Taliban von ca. 1,5 Millionen Flüchtlingen, insbesondere bäuerlichen Familien aus dem paschtunischen Süden und Osten Afghanistans, die dort angesichts der Kriegsfolgen keine Existenzmöglichkeit mehr für sich sahen, geradezu überrannt (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 12). Die dort tätigen Hilfsorganisationen können der Hilfesuchenden kaum Herr werden (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 12). Sogar für junge Rückkehrer ist die Aussicht, Arbeit zu finden, angesichts einer Arbeitslosenquote von über 70 bis 80 Prozent gering. Selbst wenn man sich beispielsweise als Bauarbeiter verdingen kann, reicht der tägliche Verdienst von 3 bis 4 Dollar (120 bis 150 Afghani) nicht einmal für die täglichen Grundnahrungsmittel - Brot, Tee und Mehl - geschweige denn Miete oder Fahrgeld (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 13).

Hiervon abgesehen wird die medizinische Versorgung vom Auswärtigen Amt als völlig unzureichend erachtet - selbst in Kabul sei keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben (Lagebericht, a.a.O.; vgl. hierzu auch VG Frankfurt a. M., Urt. v. 29. 6. 2004 - 5 E 6407/03.A(V) -: Medizinische Versorgung ist auch in Kabul nahezu unmöglich) - sowie auf Seite 27 des Lageberichts vom 21. 6. 2005 ausgeführt, dass Afghanistan zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit in der Welt zähle und die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung etwa 45 Jahre betrage.

Das Überleben der Kläger ist darüber hinaus deswegen gefährdet, weil es Einzelnen in Afghanistan nicht möglich ist, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen (vgl. Bayerisches Verwaltungsgericht München, Urt. v. 25.11. 2003 - M 23 K 03.51400 -). Derzeit ist es Rückkehrern praktisch unmöglich, sich in Afghanistan eine Existenz aufzubauen (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005 S. 12).

Eine Versorgung von Rückkehrern in Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, ist nach den vorliegenden Erkenntnissen auch nicht ansatzweise sichergestellt. Eine ausreichende Mindestversorgung, um überhaupt überleben zu können, ist nach den ausführlich dargestellten Erkenntnissen allenfalls für Rückkehrer, die auf einen zur Hilfe bereiten Familienverband zurückgreifen können, einigermaßen sichergestellt (vgl. hierzu auch Lagebericht S. 27 letzter Absatz). Denn soziale Sicherungssysteme existieren in Afghanistan nicht (so ausdrücklich der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. 6. 2005, S. 27), die soziale Absicherung wird vielmehr von Familienverbänden und -clans übernommen. Insbesondere Rückkehrer aus dem westlich geprägten Ausland stoßen auf große Schwierigkeiten (Lagebericht, S. 27; vgl. zur Situation der Flüchtlinge auch S. 28). Da Arbeit nicht vorhanden ist (vgl. die obigen Nachweise) und Hilfsleistungen von Hilfsorganisationen für Rückkehrer insbesondere aus dem europäischem Ausland in der Regel kaum erreichbar sind (vgl. Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, S. 12 letzter Absatz), ist ein Rückkehrer zwingend auf Hilfe von Angehörigen angewiesen. Für den Asylkläger, der keine Angehörigen in Kabul und dessen näherer Umgebung hat bzw. der dies glaubhaft machen kann, ist angesichts dessen, dass ansonsten keinerlei Existenzmöglichkeit besteht und die insofern entstehende Notlage im Falle einer zwangsweisen Rückführung lebensbedrohende Ausmaße annehmen würde (vgl. Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, S. 15), eine Rückkehr daher derzeit unzumutbar.