OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.03.2006 - 10 ME 228/05 - asyl.net: M8017
https://www.asyl.net/rsdb/M8017
Leitsatz:
Schlagwörter: Duldung, Krankheit, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Die nach § 146 Abs. 1 VwGO zulässige Beschwerde der Antragstellerinnen hat Erfolg. Die von den Antragstellerinnen dargelegten Gründe, auf deren Überprüfung sich die Entscheidung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Die Antragstellerinnen haben einen Anordnungsanspruch nach § 123. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.

Nach § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erstellt wird. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung liegt dann vor, wenn sich aus einfachem Gesetzesrecht diesem vorgehenden Völkergewohnheitsrecht oder Verfassungsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (vgl. Funke-Kaiser in. GK-AufenthG, Losebl. Stand April 2005, § 60 a Rdnr. 75). Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist es hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin zu 1. Wegen ihres gesundheitlichen Zustandes ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zusteht und demnach auch ihre Tochter, die Antragstellerin zu 2., einen entsprechenden Schutz vor einer Abschiebung hat.

Nach den von den Antragstellerinnen und von der Antragsgegnerin eingeholten und dem Senat vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ist es auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass für die Antragstellerin zu 1. ein hier zu berücksichtigendes Abschiebungshindernis wegen einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit (Transportunfähigkeit) besteht das einen Aussetzung der Abschiebung bis zur Beendigung einer erfolgreichen Behandlung ihrer Erkrankungen rechtfertigen könnte. Zwar leidet die Antragstellerin zu 1. - wie zwischen den Beteiligten mittlerweile unstreitig sein dürfte und schon aus der amtsärztlichen Stellungnahme der Region Hannover vom 19. Januar 2006 hervorgeht - an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihre Ursache nicht nur in den Kriegswirren im Heimatland der Antragstellerin zu 1. hat, sondern auch in dem persönlichen Schaden, der der Antragstellerin zu 1. zugefügt worden ist. Es habe sich eine depressive Symptomatik mit Suizidalität ausgebildet. So gebe die Antragstellerin zu 1. auch an, dass sie im Falle einer Abschiebung sich suizidieren würde. Allerdings besteht nach der amtsärztlichen Einschätzung im Falle einer Rückführung der Antragstellerin zu 1. grundsätzlich Flugreisetauglichkeit, jedoch nur unter der Bedingung, dass die Antragstellerin zu 1. bei Eigengefährdung von einem psychiatrisch ausgebildeten Arzt oder Rettungsassistenten begleitet werde.

Unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung ist ein Duldungsgrund nach § 60a Abs. 2 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dann anzunehmen, wenn die Abschiebung als solche über eine mögliche Transportunfähigkeit hinaus bei dem von der Zwangsmaßnahme betroffenen Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einem Gesundheitsschaden führt bzw. einen vorhandenen Gesundheitsschaden weiter verfestigt. Denn aus dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat, folgt eine umfassende Schutzpflicht des Staates, die in Bezug auf eine beabsichtigte Abschiebung zu beachten ist. Zwar muss einerseits die Ausreisepflicht des Ausländers durchgesetzt werden, doch ist anderseits gesundheitlicher Schaden von dem Ausländer abzuwenden (vgl. zur Schutzpflicht in Bezug auf eine Abschiebung: BverfG, Kammerbeschluss v. 26. Februar 1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, 241; OVG Mecklenburg-Vorpommern Beschl. v. 26. Januar 1998 - 3 M 111/97 -, InfAuslR 1998, 343). Die mit dem Vollzug der Abschiebung betraute Behörde hat daher die Pflicht, eine soweit wie möglich abgesicherte Prognose über eine behauptete Gesundheitsgefahr zu gewinnen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann. Eine Abschiebung, die als solche eine erhebliche konkrete Gefahr für den Gesundheitszustand des Ausländers bedeutet, hat zu unterbleiben. So liegt es, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung - sei es im (zeitlichen) Vorfeld der Abschiebung, während des Abschiebeverfahrens oder sei es nach dessen Vollzug im noch bestehenden zeitlichen und räumlichen Zusammenhang - der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich (oder gar lebensbedrohlich) verschlechtert wird, dass also die Abschiebung den Ausländer in diesem Sinn krank oder kränker macht. Da bei einer derartigen Sachlage die befürchteten negativen Auswirkungen bereits durch die Abschiebung als solche und nicht ernst wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung eintreten, handelt es sich um ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, nämlich um einen Duldungsgrund nach § 60a AufenthG, nicht um ein - zielstaatsbezogenes und bei Asylbewerbern allein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfendes - Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG; nicht um ein - zielstaatsbezogenes und bei Asylbewerbern allein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfendes - Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. zu der Unterscheidung insbesondere BVerwG, Urt v. 25 November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383). Dabei ist die Annahme eines Vollstreckungshindernisses nicht etwa im Hinblick auf die Möglichkeit einer späteren therapeutischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung ausgeschlossen, d.h. der Ausländer muss sich nicht gleichsam darauf verweisen lassen, eine durch die Abschiebung herbeigeführte wesentliche Versicherung seines Gesundheitszustands könne im Rahmen einer therapeutischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung behoben werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Besch. v. Mai 2001 - 11 S 389/01 -, InfAuslR 2001, 384 und juris; Beschl. v. 10. Juli 2003 - 11 S 2622/02 -, InfAuslR 2003, 423 und juris.)