VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 03.02.2006 - 4 G 227/06.A - asyl.net: M8035
https://www.asyl.net/rsdb/M8035
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verordnung Dublin II, Drittstaatenregelung, Abschiebungsanordnung, Abschiebungsandrohung, freiwillige Ausreise, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 26 Abs. 1; EG VO Nr. 343/2003 Art. 19 Abs. 1; EG VO Nr. 1560/2003 Art. 7 Abs. 1; AsylVfG § 29 Abs. 3
Auszüge:

Das Begehren der äthiopischen Staatsangehörigen, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 17.11.2005 gegen die Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin vom 24.01.2006 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig.

Insbesondere steht der Zulässigkeit nicht die Ausschlussklausel des § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen. Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung in den in einer Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG benannten sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Dieses gesetzliche Verbot erfasst jedoch nur solche Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die es in rechtmäßiger Weise gemäß § 34 a Abs. 1 i. V. m. § 26 Abs. 1 AsylVfG (Drittstaatenregelung) getroffen hat. § 34 a Abs. 1 AsylVfG bildet nach Auffassung des Gerichts keine Rechtsgrundlage für eine Aufenthaltsbeendigung in einen sicheren Drittstaat, der zugleich Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften ist.

Ist der Asylbewerber über einen anderen Mitgliedsstaat eingereist, ist vom Vorrang der EG-Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 - VO Nr. 343/2003/EG - (Dublin II-VO), welche das multilaterale System des Dubliner Übereinkommens ablöst, auszugehen. Als Verordnung im Sinne von Art. 249 Abs. 2 EG ist sie Bestandteil des sekundären Gemeinschaftsrechts und unmittelbar anwendbar, ohne dass es noch eines nationalen Umsetzungsaktes bedürfte. Zwar enthält die Verordnung keine abschließenden und ins Detail gehenden Vorschriften über das Verfahren, das der einzelne Mitgliedsstaat gegenüber den Asylbewerbern und Asylbewerberinnen nach Antragstellung durchzuführen hat, wenn er nach der Verordnung nicht zuständig ist und demnach die Betroffenen auf das Verfahren im anderen zuständigen Mitgliedsstaat verweisen will, nachdem der ersuchte Mitgliedsstaat der Aufnahme zugestimmt hat. Artikel 19 Abs. 1 VO Nr. 343/2003/EG bestimmt allerdings, dass nach erfolgter Zustimmung durch den ersuchten Staat der Mitgliedsstaat der Antragstellung dem Antragsteller diese Entscheidung sowie seine Verpflichtung, ihn an den zuständigen Mitgliedsstaat zu überstellen, mitzuteilen hat. Nach Abs. 2 dieser Norm ist die Entscheidung zu begründen und dem Antragsteller eine Frist zur Durchführung der Überstellung und gegebenenfalls Zeit und Ort der Überstellung mitzuteilen. Gegen diese Entscheidung muss ein Rechtsbehelf eröffnet sein, dem jedoch nur dann aufschiebende Wirkung zukommt, soweit dies nach innerstaatlichem Recht zulässig ist. Die Verordnung wird namentlich in verfahrensrechtlicher Hinsicht ergänzt und konkretisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 02.09.2003 (VO 1560/2003/EG). In Art. 7 Abs. 1 dieser Durchführungsbestimmungen ist als eine von drei Modalitäten der Überstellung die Ermöglichung einer freiwilligen Ausreise des Asylbewerbers innerhalb einer vorgegebenen Frist genannt; in diesem Fall erhält der Asylbewerber einen Passagierschein, damit er sich in den zuständigen Staat begeben und sich an dem Ort innerhalb der Frist, die ihm bei der Mitteilung der Entscheidung über seine Aufnahme bzw. Wiederaufnahme durch den zuständigen Staat genannt wurde, ausweisen kann.

Festzustellen ist, dass im Asylverfahrensgesetz unmittelbar auf die vorgenannten Regelungen des Gemeinschaftsrechts bezogene und diese ausführende Regelungen gegenwärtig nicht enthalten sind. § 29 Abs. 3 AsylVfG, dessen Anwendung der Bevollmächtigte der Antragstellerin und ebenso etwa das VG Wiesbaden (Beschluss vom 10.11.2004, Az.: 5 G 2329/04, AuAS 2005, 34 ff.) für einschlägig halten, bezieht sich nur auf ein Verfahren aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages nach Maßgabe von Art. 16a Abs. 5 GG. Allerdings ist dieser Verfassungsnorm und dem durch Änderungsgesetz 1993 neu eingefügten Abs. 3 des § 29 AsylVfG im Zusammenhang mit der in Art. 16 a Abs. 2 und 5 GG, §§ 26 a, 34 a AsylVfG geregelten Drittstaatenkonzeption zu entnehmen, dass das innerstaatliche Recht zwischen sicheren Drittstaaten und Vertragsstaaten unterscheidet. Vertragsstaaten in diesem Sinne waren insbesondere diejenigen des Dubliner Übereinkommens (DÜ) vom 15.06.1990 (BGBl. 1994, S. 792) und des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) vom 19.06.1990 (BGBl. II 1993, S. 1010). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tritt indes die Drittstaatenregelung des Art. 16 a Abs. 2 GG hinter völkerrechtlichen Vereinbarungen im Sinne des Art. 16a Abs. 5 GG zurück (BVerfGE 94, 49 [86]). Ausgehend von dieser verfassungsrechtlichen Ausgangssituation und vor dem Hintergrund, dass die VO Nr. 343/2003/EG eine völkerrechtliche Vereinbarung im Sinne des Art. 16 a Abs. 5 GG, § 29 Abs. 3 AsylVfG, nämlich das Dubliner Übereinkommen, ablöst, wird deutlich, dass eine nunmehr erfolgende Anwendung des § 34 a AsylVfG für eine Aufenthaltsbeendigung in einen Mitgliedsstaat der Gesetzessystematik nicht gerecht wird. Zudem werden hiermit die oben genannten Vorgaben der VO Nr. 343/2003/EG sowie der entsprechenden Durchführungsbestimmung nicht erfüllt. Vor allem aber liegt eine gesetzgeberische Entscheidung dahingehend, die früheren Vertragsstaaten des Dubliner Übereinkommens als Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften und Adressaten der VO Nr. 343/2003/EG nunmehr - im Gegensatz zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Verordnung - der Drittstaatenkonzeption, d. h. dem Instrument der Abschiebungsanordnung ohne Fristsetzung und ohne die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes zu unterstellen, nicht vor.

Die derzeit fehlende Anpassung des Asylverfahrensgesetzes an die Verordnung Nr. 343/2003/EG, insbesondere bezüglich der Klärung, ob vorläufiger Rechtsschutz ausnahmsweise zulässig (vgl. Art. 19 Abs. 2 Satz 4 VO Nr. 343/2003/EG) und ob eine freiwillige Ausreise ermöglicht werden soll (Art. 19 Abs. 2 Satz 2 VO 343/2003/EG und Art. 7 Abs. 1 a, Abs. 2 VO 1560/2003/EG), macht es nach Auffassung des Gerichts aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) erforderlich, den betreffenden Personenkreis nicht schlechter zu stellen, als vor Inkrafttreten der VO Nr. 343/2003/EG.

Das Gericht sieht sich im Übrigen in dieser Auffassung auch dadurch bestätigt, dass der Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern zum 2. Änderungsgesetz zum Zuwanderungsgesetz (Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union), Stand: 03.01.2006, die Gesetzeslücke aufgegriffen hat. So ist hierin etwa die Anwendung des § 34 a AsylVfG für eine Aufenthaltsbeendigung in einen anderen Mitgliedsstaat der EU durch Einfügung des neuen § 27 a AsylVfG und Ergänzung des § 34 a AsylVfG vorgesehen. Auffallend ist insoweit, dass nach der Systematik dieses Entwurfs nunmehr eindeutig (weiterhin) die Drittstaatenkonzeption des Art. 19 II GG, § 26 a AsylVfG nicht die Fälle der Einreise über einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften umfasst (s. Wortlaut des neuen § 27 a AsylVfG). Dies zeigt, dass auch im Bundesministerium des Innern ein entsprechender Anpassungsbedarf gesehen wird.

Dass die derzeit vorgegebenen gesetzlichen Instrumentarien nicht passen, zeigt auch der Umstand, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im angefochtenen Bescheid als Rechtsgrundlage nicht § 26 a Abs. 1 AsylVfG unmittelbar, sondern § 29 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 26 a Abs. 1 AsylVfG genannt hat mit der Folge der Anwendung des § 34 a AsylVfG.

Das Gericht sieht aufgrund der eindeutigen Regelung des § 29 Abs. 3 AsylVfG, der einen völkerrechtlichen Vertrag voraussetzt, keinen Raum für die Anwendung des § 29 Abs. 3 AsylVfG und nachfolgend des § 35 AsylVfG (so aber VG Wiesbaden, Beschluss vom 10.11.2004, a. a. O.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 29 Rdnr. 48; wie hier: Marx, AsylVfG, § 29, Rdnr. 48, der jedoch § 35 AsylVfG für anwendbar hält).

Das Gericht greift aus der Systematik des Asylverfahrensgesetzes heraus unmittelbar auf § 36 AsylVfG zurück, der insoweit einen Mindeststandard enthält für die Behandlung und den Rechtsschutz der vergleichbar unbeachtlichen bzw. offensichtlich unbegründeten Asylanträge. Hiernach sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und ist dem Ausländer eine Ausreisefrist von einer Woche zu gewähren.

Hieraus folgt, dass das persönliche Interesse der Antragstellerin und des Antragstellers, von der Vollziehung des Bescheides des Bundesamtes vom 24.01.2006 verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides überwiegt, solange der Antragstellerin und dem Antragsteller eine freiwillige Ausreise unter Fristsetzung nicht ermöglicht worden ist.