VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 19.09.2005 - W 8 K 04.30919 - asyl.net: M8050
https://www.asyl.net/rsdb/M8050
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für ukrainische Staatsangehörige wegen Zwangsprostitution.

 

Schlagwörter: Ukraine, Tschechien (A), geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Zwangsprostitution, Menschenhandel, Flüchtlingsfrauen, Frauen, organisierte Kriminalität, Sippenhaft, Zuhälter, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für ukrainische Staatsangehörige wegen Zwangsprostitution.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Die Klägerin zu 1) hat bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, wie sie auf der Suche nach Arbeit unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Tschechien gelockt und dort in der Nähe der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland zur Prostitution gezwungen worden ist. Die Klägerin zu 1) konnte sich dieser Organisation nicht entziehen, es wurde nicht zugelassen, dass sie aus der Prostitution "ausstieg". So versuchte diese, der Klägerin zu 1) habhaft zu werden und als ihr dies nicht gelang, da sie bei ihrer Großmutter Unterschlupf gefunden hatte, wurde der Bruder der Klägerin zu 1) zusammengeschlagen und die gesamte Familie bedroht. Da der Sohn der Klägerin zu 1), der Kläger zu 2), inzwischen ins Schulalter gekommen war, konnte die Klägerin zu 1) mit ihm nicht untertauchen, da er ohne offizielle Anmeldung auch nicht die Schule besuchen konnte. Die Klägerin zu 1) geriet dadurch in eine ausweglose Situation, denn sie hatte nur die Alternative, weiter der Prostitution nachzugehen oder zusammen mit ihrem Sohn untergetaucht in der Ukraine zu leben mit der Folge, dass dieser weder eine Schule besuchen konnte noch in den Genuss sonstiger sozialer Leistungen wie insbesondere einer Versorgung im Krankheitsfall gekommen wäre. Dies stellt eine Verfolgung i.S. von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG dar, denn die Bedrohung, der die Klägerin zu 1) ausgesetzt war, knüpft allein an ihr Geschlecht an. Dabei ist vorliegend auf die soziale Bedeutung des Begriffs Geschlecht abzustellen. Geschlecht im biologischen Sinne bezeichnet unterschiedliche biologische Merkmale, während der Begriff Geschlecht in seiner sozialen Bedeutung (Gender) die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder kulturell üblicher oder definierter Identitäten, Rechtsstellungen, Rollen und Aufgaben, die dem einen oder dem anderen Geschlecht zugewiesen sind, bezeichnet (vgl. Marx, Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ZAR 2005, 177 f). Aus dieser Definition folgt, dass genderspezifische Merkmale eine bestimmte soziale Gruppe bezeichnen können. Vorliegend knüpft die Verfolgung der Klägerin zu 1) an das geschlechtsspezifische Merkmal Frau i.S. seiner sozialen Bedeutung an. Für die besondere Situation der Klägerin zu 1) gilt, dass Frauenhandel untrennbar mit sexueller Gewalt, Ausbeutung und Zwangsprostitution verbunden ist, wobei der Frauenhandel auf den Genderstatus der Frau, ihr Alter, Geschlecht, ihre wirtschaftliche und soziale Stellung und insbesondere auch ihre sexuelle Verwertbarkeit zu wirtschaftlichen Zwecken zielt und damit insgesamt die für die bestimmte soziale Gruppe maßgebenden Genderfaktoren bezeichnet (vgl. Marx, a.a.O., unter Hinweis auf UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung). Für die Klägerin zu 1) trifft dies zu, da ihre Situation als junge allein erziehende Mutter auf der Suche nach Arbeit von der Zuhälterorganisation ausgenutzt wurde.

Die Verfolgung, der die Klägerin zu 1) ausgesetzt war, geht dabei von nichtstaatlichen Akteuren aus, nämlich einer mächtigen kriminellen Organisation.

Wie sich aus den glaubwürdigen Ausführungen der Klägerin zu 1) ergibt, war der ukrainische Staat nicht in der Lage, ihr Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Die Klägerin zu 1) hat sich erfolglos an die staatlichen Behörden gewandt, wie sie überzeugend geschildert hat. Der Klägerin zu 1) wurde insbesondere auch kein Schutz durch internationale Organisationen, der in der Ukraine theoretisch möglich ist, angeboten; sie hatte keine Kenntnis von diesen Möglichkeiten. Die Angaben der Klägerin zu 1) werden bestätigt durch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. März 2003 (insbes. S. 15 f), wonach eine wirksame Umsetzung des entsprechenden nationalen Programms bisher verhindert wurde; auch werde von der Zahlung von Schweigegeldern an örtliche Polizeidienststellen und teilweise direkter Unterstützung der Schleuserbanden durch lokale Dienststellen berichtet.