OLG Hamburg

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Zitieren als:
OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 - asyl.net: M8052
https://www.asyl.net/rsdb/M8052
Leitsatz:
Schlagwörter: Unionsbürger, Straftat, illegale Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Ausweisung, Sperrwirkung, Freizügigkeit, Einreiseverbot, Verlust des Aufenthaltsrechts
Normen: AufenthG § 95 Abs. 2; FreizügG/EU § 9; AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 1; FreizügG/EU § 9; FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 1; FreizügG/EU § 6
Auszüge:

Die zulässige Beschwerde vom 21. Oktober 200 ist unbegründet.

Das Landgericht hat zu Recht den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 13. September 2005 aufgehoben.

Gegen den Beschuldigten ist weder der Verdacht einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 a und 1 b des AufenthG noch einer Straftat nach § 9 FreizügG/EU gegeben.

1. Es besteht kein Tatverdacht gegen den Beschuldigten wegen der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 2 Nr. l a und 1 b AufenthG. Wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt hat, ist die Strafvorschrift des § 95 AufenthG auf den Beschuldigten nicht anwendbar. Denn der Beschuldigte ist als niederländischer Staatsangehöriger Bürger eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes finden aber auf Unionsbürger gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur Anwendung, soweit dies durch Gesetz bestimmt ist. In dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Freizügigkeitsgesetz, welches die Rechtsstellung der Unionsbürger in der Bundesrepublik Deutschland regelt, findet sich keine Norm, die auf die Anwendbarkeit des § 95 Abs. 2 AufenthG auf Unionsbürger verweist.

Entgegen der vom Amtsgericht vertretenen Auffassung gilt das Freizügigkeitsgesetz gemäß seines § 1 für alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen für die Freizügigkeitsberechtigung nach den §§ 2 bis 4 FreizügG/EU erfüllen oder nicht (so auch Hess. Verwaltungsgerichtshof, NVwZ 2005, 837).

Die Entscheidung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2005 (Az. 3 Bf 294/04), derzufolge die Sperrwirkungen einer vor dem 1. Januar 2005 bestandskräftig gewordenen Ausweisung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG auch gegenüber denjenigen Ausländern fortgehen, die sich auf das europäische Freizügigkeitsrecht berufen, vermag hieran nichts zu ändern. Selbst wenn verwaltungsrechtlich für Unionsbürger, die bis zum 31. Dezember 2004 bestandskräftig aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden sind, ein Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG bestehen sollte, führt dies nicht zur Strafbarkeit eines solchen bestandskräftig ausgewiesenen Unionsbürgers im Falle seiner erneuten Einreise in das Bundesgebiet nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Denn es fehlt in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU ein Verweis auf § 102 i.V.m § 11 Abs. 1 AufenthG sowie auf die Strafvorschrift des § 95 Abs. 2 AufenthG für bestandskräftig ausgewiesene Unionsbürger. Vielmehr hat der Gesetzgeber für Unionsbürger den Straftatbestand des § 9 FreizügG/EU bei Einreise entgegen einem Einreiseverbot geschaffen. Dieses Gesetz geht als spezielles Gesetz dem § 95 Abs. 2 AufenthG vor (Renner, Ausländerrecht Kommentar, 8. Auflage, § 95 AufenthG, Rz. 2). Eine entsprechende Anwendung des § 95 Abs. 2 AufenthG scheitert auch - wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat - an dem im Strafrecht geltenden Analogieverbot. Obwohl eine Strafbarkeitslücke nach Ansicht des Senates zu bejahen ist, steht es dem Analogieverbot entgegen, einen Rechtssatz auf einen von ihm aufgrund einer planwidrigen Gesetzeslücke nicht erfaßten Sachverhalt, der dem geregelten rechtsähnlich ist, zu Ungunsten des Beschuldigten anzuwenden.

2. Gegen den Beschuldigten besteht aber auch kein Verdacht, eine Straftat nach § 9 FreizügG/EU begangen zu haben. Der Tatbestand des § 9 FreizügG/EU ist nicht erfüllt, da der Beschuldigte nicht entgegen § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU in das Bundesgebiet eingereist ist oder sich darin aufgehalten hat. Denn der Beschuldigte hat nicht sein Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 oder Abs. 3 FreizügG/EU verloren. An einer entsprechenden Feststellung der Ausländerbehörde, dass der Beschuldigte sein gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bestehendes Freizügigkeitsrecht verloren hat, fehlt es.

Der Tatbestand des § 9 FreizügG/EU ist auch nicht dadurch erfüllt, dass der Beschuldigte rechtskräftig durch Bescheid der Freie und Hansestadt Hamburg vom 7. Oktober 2003 aus der Bundesrepublik ausgewiesen worden ist. Denn dieser Bescheid ist auf der Rechtsgrundlage der damals geltenden §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG ergangen, wobei die Modifizierungen, die sich aus § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthaltsG/EWG ergeben haben, bei der Entscheidung berücksichtigt worden sind.

Die Strafvorschrift regelt nicht ausdrücklich die Strafbarkeit des EU-Bürgers, der vor dem 1. Januar 2005 auf der Rechtsgrundlage der §§ 45, 46 AuslG seine Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet verloren hat und für den - nach der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts - ein Einreiseverbot gemäß § 11 AufenthG besteht. Die Ausweisung eines Unionsbürgers aufgrund der §§ 45, 46 AuslG, 12 AufenthaltsG/EWG steht einer Aberkennung des Freizügigkeitsrechts nach § 6 FreizügigG/EU auch nicht gleich.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich insoweit um einen ähnlich gelagerten Sachverhalt handelt, verbietet - wie oben dargelegt - das im Strafrecht geltende Analogieverbot dem Gericht auch hier, diesen Sachverhalt unter § 9 FreizügG/EU zu subsumieren, auch wenn er ihm ähnlich ist und in seinem Unrechtsgehalt entsprechen mag.