VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 04.04.2006 - 1 B 6/06 - asyl.net: M8056
https://www.asyl.net/rsdb/M8056
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Wohnraum, alleinstehende Personen, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Es bestehen im Sinne des § 36 Abs. 4 AsylVfG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2005 enthaltenen Abschiebungsandrohung.

Denn die ernstlichen Zweifel ergeben sich jedenfalls aus dem Umstand, dass für die Antragstellerinnen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand voraussichtlich festzustellen ist.

Im Falle einer Rückkehr wären die Antragstellerinnen aufgrund ihrer individuellen Situation einer extremen Gefahrenlage ausgeliefert, da sie in Kabul mit ihren Eltern leben müssten, ohne dass sie nach der sich abzeichnenden ändernden Auskunftslage in der Lage wären, sich das zum Existenzminimum Notwendige zu besorgen.

Das Gericht geht zunächst davon aus, dass die Antragstellerinnen im Falle ihrer Rückkehr mit ihren Eltern ohne weitere familiäre oder nachbarschaftliche Unterstützung in Kabul leben müssten. Nach den Angaben der Eltern leben in Kabul bzw. Afghanistan keine weiteren Familienangehörigen oder Verwandte. Aufgrund dessen nimmt das Gericht an, dass die Antragstellerinnen und ihre Eltern als Familie mit zwei kleinen Kindern nicht in der Lage wären, sich ihr Existenzminimum in Kabul zu sichern. Ungeachtet des Umstandes, dass es für die Antragstellerinnen und ihren Eltern, die hier von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leben, bereits aus finanziellen Gründen ausgeschlossen ist, sich eine Unterkunft anzumieten, werden die Eltern der Antragstellerinnen voraussichtlich keine Möglichkeit haben, eine Unterkunft für eine vierköpfige Familie zu finden. Insgesamt gesehen ist in Kabul die Versorgung mit Wohnraum unzureichend, das Angebot an Wohnraum knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich (Auswärtiges Amt, Lagebericht für die Islamische Republik Afghanistan vom 29. November 2005, S. 31). Bei einer Arbeitslosenquote von über 70 v. H. (vgl. die Auskunft von Dr. Danesch an das Sächs. OVG vom 24.7.2004, S. 47) besteht für die Eltern der Antragstellerinnen keinerlei Aussicht, eine Arbeit zu finden. Dies gilt insbesondere angesichts der Ausbildung des Vaters der Antragstellerinnen, der nach eigenen Angaben als Soldat niedrigen Ranges beim Geheimdienst tätig war. Staatliche soziale Sicherungssysteme wie Renten-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherungen gibt es nicht. Auch können Rückkehrer aus Europa, die nicht in die eigene Familie zurückkehren können, weil diese Afghanistan verlassen haben, auch nicht mehr auf ein soziales Netz der Nachbarschaftshilfe zurückgreifen (vgl. Informationsbund Asyl e. V., Rückkehr nach Afghanistan. S. 12 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht für die Islamische Republik Afghanistan vom 29. November 2005, S. 31 f.). Die medizinische Versorgung in Afghanistan ist aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte sowie mangels ausgebildetem Hilfspersonal völlig unzureichend. Auch in Kabul, wo mehr Krankenhäuser als im übrigen Afghanistan angesiedelt sind, ist für die afghanische Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben. Afghanistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht für die Islamische Republik Afghanistan vom 29. November 2005, S. 31).

Diese allgemein schlechte Lage bedeutet für die Antragstellerinnen und ihre Eltern, da sie nicht von einem Familienverbund in Kabul aufgefangen werden, dass sie im Falle ihrer Rückkehr auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen wären, deren Hilfestellungen sie jedoch nicht in ausreichendem Umfang werden in Anspruch nehmen können. Zwar hat der UNHCR mit verschiedenen Nicht-Regierungs-Organisationen eine Vereinbarung über die Errichtung einer begrenzten fünfstelligen Zahl von Unterkünften in den Provinzen und der Zentralregion Kabul geschlossen und es sind bis Ende 2003 knapp 70.000 Unterkünfte zur Verfügung gestellt worden (vgl. VG Minden, Urt. v. 17. Mai 2004 - 9 K 5145/03.A -). Die Antragstellerinnen und ihre Eltern werden jedoch angesichts der vielen Flüchtlingsfamilien keine Möglichkeit haben, an eine dieser Unterkünfte zu kommen, da die sich Zahl der Rückkehrer seit Anfang 2002 auf insgesamt etwa 4,4 Millionen Menschen beläuft, von denen zuletzt im Jahre 2005 bis einschließlich September 2005 ca. 440.000 Menschen zurückkehrten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht für die Islamische Republik vom 29. November 2005, S. 32). In Kabul ist durch die Rückkehrer die Bevölkerungszahl nach letzten offiziellen Angaben auf 4,5 Millionen Menschen angewachsen, deren Mehrheit auf sich allein gestellt ist, da die Hilfsangebote der internationalen Hilfsorganisationen nur einen kleinen Teil der Bedürftigen erreichen. Eine inoffizielle Schätzung geht von einer Bevölkerungszahl in Kabul von über 5 Millionen Menschen aus. Etwa 1,5 bis 2 Millionen Menschen versuchen, außerhalb der Zeltlager unterzukommen und auf einem praktisch nicht mehr existierenden Arbeitsmarkt eine Tätigkeit zu finden (vgl. Dr. Danesch, Auskunft vom 24.7.2004 an das Sächs. OVG, S. 47 und Auskunft vom 25.1.2006 an das VG Hamburg, S. 6 f.). Wegen dieser Entwicklung ist es nicht wahrscheinlich, dass die Familie die Hilfsangebote der internationalen Hilfsorganisationen wird in Anspruch nehmen können. Rückkehrer können nach neuerer Auskunftslage dementsprechend in Kabul weder durch Leistungen von Hilfsorganisationen noch durch eigene Arbeit das zum Existenzminimum Notwendige erlangen. Die Lage zurückkehrender Flüchtlinge sei nach der Auskunft von Dr. Danesch vom 25. Januar 2006 an das VG Hamburg so katastrophal, dass sie unmittelbar eine Existenzgefährdung für die Rückkehrer darstelle (S. 5 der Auskunft). Ursache für die Bevölkerungsexplosion sei, dass viele Rückkehrer, die ursprünglich vom Lande stammten, wegen der niederliegenden Landwirtschaft nach Kabul geströmt seien (S. 6 f. der Auskunft). Rückkehrer aus Europa erhielten - wie andere Rückkehrer - von der UN eine einmalige Hilfe von 12 Dollar pro Person. Weitere Hilfen durch die UN oder Nicht-Regierungsorganisationen gebe es in Kabul momentan nicht (S. 7 der Auskunft). Das Budget des afghanischen Ministeriums für Rückkehrer reiche nicht aus, die Flüchtlinge zu versorgen (S. 8 der Auskunft). Erschwinglicher Wohnraum außerhalb der Flüchtlingslager existiere für Rückkehrer nicht (S. 12 der Auskunft). Laut dem Ministerium für Energie und Wasserversorgung hätten 90 v. H. der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu elektrischen Strom (S. 12 der Auskunft). Für Flüchtlinge seien selbst Grundnahrungsmittel kaum erschwinglich (S. 12 der Auskunft).