Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG.
(Leitsatz der Redaktion)
In seinem Urteil vom 02.06.2005 - Rs.C-136/03 (Dörr und Ünal - InfAuslR 2005, 289 ff.) hat der EuGH u.a. ausgeführt, Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG des Rates vom 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, sei dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedsstaats entgegensteht, nach der gerichtliche Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, die gegenüber einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ergeht, keine aufschiebende Wirkung haben und die genannte Entscheidung im Rahmen dieser Rechtsbehelfe nur auf ihre Gesetzmäßigkeit hin überprüft werden kann, wenn keine zuständige Stelle im Sinne der genannten Bestimmung eingerichtet worden ist. Ferner hat er dargelegt, dass diese Rechtsschutzgarantie auch für türkische Staatsangehörige gelte, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zukomme.
Es spricht Vieles dafür, dass die Vollziehungsanordnung in der Ausweisungsverfügung des Antragsgegners gegen die verfahrensrechtliche Mindestgarantie des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 verstößt, wie sie vom EuGH in der genannten Entscheidung ausgelegt wird (vgl. zuvor bereits EuGH, Urteil vom 29. April 2004 – Rs.C-482/01 und C - 493/01 (Ofanopulos und Oliveri), InfAuslR 2004, 268 ff., 276 für die Ausweisung von EU-Angehörigen (ohne Vollziehungsanordnung)).
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO hat zur Konsequenz, dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben. In einem solchen Fall sieht Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 vor, dass vor einer Entscheidung mit der Folge einer sofortigen Abschiebemöglichkeit die Stellungnahme einer "zuständigen Stelle" einzuholen ist, die eine andere sein muss, als diejenige, die für die Entscheidung zuständig ist. Außer in dringenden Fällen darf die Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung erst nach Erhalt der Stellungnahme dieser anderen zuständigen Stelle treffen. Der Betroffene muss sich vor der letztgenannten Stelle entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen und unterstützen oder vertreten lassen können (vgl. EuGH, a.a.O., S. 290).
Als eine solche "zuständige Stelle" kommt bei dem in Deutschland geltenden Verwaltungsverfahren die Widerspruchsbehörde in Betracht. Denn erforderlich ist nach der genannten Rechtsprechung, dass diese Stelle nicht nur über die Rechtsmäßigkeit, sondern auch über die Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme eine Stellungnahme abgibt. Vor einer solchen erschöpfenden Prüfung auch der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme würde der Vollzug einer Abschiebung gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 69/221 verstoßen.
Für den Erlass einer Ausweisungsverfügung gibt es keine Regelung im derzeit geltenden Verwaltungsverfahren, wonach die Ausländerbehörde vor ihrer Entscheidung die Stellungnahme einer solchen "zuständigen Stelle" einholen müsste oder könnte. Statt dessen hat der Betroffene die Möglichkeit, gegen die Verfügung Widerspruch einzulegen; die Widerspruchsbehörde prüft sodann neben der Rechtmäßigkeit auch die Zweckmäßigkeit der Ausweisung. Eine Beibehaltung dieses Verfahrens hat im Lichte der genannten Rechtsprechung nach Auffassung des Gerichts die Konsequenz, dass "außer in dringenden Fällen" eine Anordnung der sofortigen Vollziehung erst nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides ergehen darf (vgl. Beschluss der Kammer vom 7. November 2005 - 23 L 1474/05 -).