VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 21.02.2006 - A 11 K 11606/05 - asyl.net: M8073
https://www.asyl.net/rsdb/M8073
Leitsatz:

Regelmäßig keine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in Russland.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Vorverfolgung, Glaubwürdigkeit, illegaler Waffenbesitz, interne Fluchtalternative, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Krasnodar, Stawropol, Freizügigkeit, Registrierung, Situation bei Rückkehr, Sozialhilfe, Existenzminimum, Wohnung, medizinische Versorgung, Moskau, Südrussland, Gruppenverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Regelmäßig keine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in Russland.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Gericht ist überzeugt, dass der Kläger individuell vorverfolgt ist.

Auf eine inländische Fluchtalternative in den restlichen Gebieten der Russischen Föderation kann der Kläger nicht verwiesen werden. Ihm droht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens ebenfalls mit hinreichender Sicherheit politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 AufenthG), nämlich durch die in seinem Fall zu erwartende Verweigerung der Registrierung außerhalb Tschetscheniens und deren Folgen (vgl. zur inländischen Fluchtalternative BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, a.a.O., 315 ff., 342, 343 ff.; BVerwG, Beschl. v. 16.06.2000, Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 43 m.w.N.; zu Tschetschenien: bejahend OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 4 A 312/00 - m.w.N.; Niedersächs. OVG, Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -, AuAS 2004, 2002 ff.; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -; verneinend VG Düsseldorf, Urt. v. 19.05.2003 - 25 K 7112/01.A -: VG Karlsruhe, Urt. v. 06.02.2004 - A 11 K 10284/02 zu Tschetschenen aus Kabardino-Balkarien; differenzierend VG Karlsruhe, Urt. v. 22.10.2002 - A 11 K 11512/01 - u. VG Braunschweig, Urt v. 24.07.2002 - 8 A 98/02 -; BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.04.2002, 1 ESVGH 52, 191).

Inguschetien bot für den Kläger bei seiner Ausreise keine inländische Fluchtalternative, eine Rückkehr dorthin ist auch derzeit nicht zumutbar. Tschetschenen konnten ab Mitte 2002 nicht mehr nach Inguschetien ausweichen, weil sich der Druck auf die Flüchtlinge in den - ohnehin nach Ansicht des UNHCR nicht den Grundbedürfnissen entsprechenden - Notunterkünften in Inguschetien zunehmend verschärfte.

In Kabardino-Balkarien sowie in den Regionen Krasnodar und Stawropol ist ebenfalls nicht hinreichend gewährleistet, dass der Kläger dort einen legalen Aufenthalt begründen kann. Tschetschenen steht zwar wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des zeitweiligen Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie z.B. Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert.

Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und diejenige am Wohnort. Sie ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen oder Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem (AA, Ad hoc-Bericht v. 13.12.2004. S. 13f. u. v. 16.02.2004, S. 18 f. u. v. 27.11.2002 S. 14; so bereits UNHCR v. Januar 2002) und für den Arbeitsplatz (vgl. IGFM v. 20.12.2000 an VG Schleswig-Holstein; vgl. im Übrigen GfbV v. 02.10.2002 an VGH Mannheim u. München).

Auch in den übrigen Teilen der Russischen Föderation kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Kläger eine Registrierung findet und ohne registriert zu sein, nicht in eine ausweglose Lage gerät.

Dass eine legale Niederlassung von aus Deutschland zurückgeführten Tschetschenen in der Russischen Föderation möglich ist, wurde zwar von Memorial - trotz aller bestehenden Schwierigkeiten - eingeräumt (Memorial, a.a.O., v. Mai 2004, S. 35 ff., 40 f.). Auch dies ist bei der Prognose über die Aussichten, registriert zu werden, mit zu berücksichtigen. Der Vorwurf, die Mitteilungen amnesty internationals (v. März 2004) und des UNHCR (v. Februar 2003) zum Registrierungswesen enthielten keine konkrete Beispiele oder Zahlen für die behaupteten Registrierungshindernisse bzw. restriktive Registrierungspraktiken (OVG NW, a.a.O., UA 23 ff.), muss gleichermaßen für das Auswärtige Amt gelten. In den Lageberichten vom 13.12.2004 und vom 16.02.2004 fehlen Einzelfälle und Belege für die Ausführungen, tschetschenischen Volkszugehörigen stünden vor allem in Südrussland, insbesondere in Dagestan, der Wolgaregion, westlich des Urals und auch in sonstigen Bereichen der Russischen Föderation Orte zur Verfügung, an denen sie sich niederlassen können. Dass dies rechtlich möglich ist, wird nicht in Abrede gestellt. Jedoch fehlt es an einem nachvollziehbaren Beleg und Anhaltspunkten dazu, dass tschetschenische Volkszugehörige sich in den genannten Gebieten legal oder illegal niederlassen können, ohne in eine ausweglose Lage zu geraten, und dies muss neben dem Umstand und dem Einwand, Tschetschenen lebten tatsächlich in Südrussland (OVG NW, a.a.O., UA 15 ff., 24), in die Prognose Eingang finden. Eine zwangsweise Rückführung tschetschenischer Rückkehrer nach Tschetschenien aufgrund behördlicher Maßnahmen ist allerdings nicht zu erwarten, sie sind auch aus passrechtlichen Gründen nicht veranlasst oder gezwungen, nach Tschetschenien zurückzukehren (vgl. OVG NW, Urt. v. 12.07.2005, a.a.O., UA 26 f.; BayVGH, a.a.O., UA 20 ff.; AA, Ad hoc-Bericht v. 13.12.2004, S. 13 ff.).

Die Verweigerung der zeitweisen oder dauerhaften Registrierung ist eine zielgerichtete Maßnahme in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale - der tschetschenischen Volkszugehörigkeit -, die dem russischen Staat zurechenbar ist (so bereits VG Karlsruhe Urt. v. 10.03.2004 - A 11 K 12494/03 (rkr.) u. A 11 K 12230103 (rkr.) -; vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, a.a.O., 335 m.w.N. u. Hess VGH, Urt. v. 19.11.2002 - 5 UE 4670/96 A - u. v. 30.05.2003 - 3 UE 858/02 A - m.w.N).

Die in der Rechtsprechung von tschetschenischen Volkszugehörigen geforderten erheblichen Anstrengungen bei der Beschaffung der Registrierung bis hin zur Anrufung der Gerichte können, wie der Bayrische VGH (Urt. v. 31.01.2005, a.a.O.,) zu Recht einräumt, nur dann gefordert werden, wenn der Betroffene hierdurch nicht in eine "ausweglose" Lage gerät. Im Regelfall ist dies vorprogrammiert, wenn dem Betroffenen die notwendigen finanziellen Reserven für einen Aufenthalt ohne Registrierung oder hilfreiche Kontakte fehlen.

Ergibt die Prognose unter Einbeziehung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und aller Umstände des Einzelfalles, dass der Kläger mit hinreichender Sicherheit keine Registrierung erlangen kann, obwohl er alle ihm zumutbaren Bemühungen unternimmt, und er ohne registriert zu sein, in eine ausweglose Lage geraten würde, so ist diese Maßnahme asylrechtlich relevant. Das Gericht sieht darin eine im Einzelfall drohende individuelle politische Verfolgung, entgegen den Äußerungen des OVG Bremen (Urt. v. 23.03.2005, a.a.O., S. 13) keine Gruppenverfolgung, weil es u.a. am Nachweis der Verfolgungsdichte fehlt.

Ein Leben in der Illegalität ist für tschetschenische Flüchtlinge bzw. Rückkehrer auch angesichts der Tatsache, dass ca. 40 % der Bevölkerung der Russischen Föderation unterhalb des Existenzminimums leben und sich ihren Unterhalt meist durch Hilfe von Freunden und Verwandten oder durch unterschiedliche Formen der weit verbreiteten Schattenwirtschaft sichern können (vgl. AA, Lagebericht v. 28.08.2001), grundsätzlich nicht zumutbar, weil sie erfahrungsgemäß keine - oder nur unter ganz besonderen Voraussetzungen eine - Existenzmöglichkeit finden. Ob ein Leben in der Illegalität zumutbar ist, hängt von der Prognose über die zu erwartenden Folgen und Beeinträchtigungen ab. Maßgebend hierfür sind etwa die Vermögensverhältnisse des Betroffenen und seiner Familie und seine Fähigkeiten, etwa erlernte Berufe und bisherige Beschäftigungen sowie Kontakte zu ansässig gewordenen Tschetschenen, mittels denen der Betreffende seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.