VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 24.02.2006 - 2 A 361/04 - asyl.net: M8082
https://www.asyl.net/rsdb/M8082
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Kriminelle, Entführung, Beleidigung, Staatspräsident, Baschar Al Assad, Fotos, Geheimdienst, Folter
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger ist als Asylberechtigter anzuerkennen. Ihm ist ferner Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzusprechen.

Aufgrund des Akteninhalts und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger sein Heimatland Syrien aus Furcht vor ihm unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat.

Asylbegründend ist nicht, dass der Sohn des Klägers im August 2002 in Syrien entführt und in den Libanon verbracht worden ist. Zum einen wird man dem syrischen Staat weder die Entführung als solche noch den fehlenden Schutz gegen Kriminelle anlasten können; zum anderen war die Entführung nicht das unmittelbar fluchtauslösende Ereignis, sondern der Kläger hat im Anschluss daran mit seiner Familie noch rund 1 1/2 Jahre in Syrien (und im Libanon) gelebt. Politische Verfolgung droht dem Kläger vielmehr deshalb, weil einem der vier in Syrien agierenden Geheimdienste bekannt geworden ist, dass der Kläger ein Foto des syrischen Präsidenten zerstört hat; was als feindlicher Akt gegenüber dem Staat bewertet wird und wobei dem Kläger eine staatsfeindliche politische Überzeugung zumindest unterstellt wird. Dass der Kläger mit knapper Not seiner Verhaftung und Verurteilung zu langjähriger Freiheitsstrafe, verbunden mit Folter entkommen ist, ist um so wahrscheinlicher, als der Geheimdienstoffiziers ... - was nahe liegt - nicht nur wegen der standhaften Weigerung des Klägers erheblichen Ärger mit der kriminellen Bande, sondern auch Anlass hatte, sich den Kläger als Mitwisser vom Halse zu schaffen. Syrien ist kein demokratischer Rechtsstaat. Regierung und Parlament treten in ihrer Bedeutung hinter den Machtapparat aus Militär und Geheimdiensten zurück, auf den sich auch Präsidenten Baschar Al Assad stützt. Unmittelbare körperliche Gewaltanwendung einschließlich Folter gegen Verhaftete kommt vor, wenn auch das Ausmaß geheimdienstlicher Willkürakte, insbesondere das Niveau der Gewaltanwendung bei Verhören, in jüngster Vergangenheit abgenommen hat. Syrische Gerichte sind in politischen Verfahren nicht unabhängig. Die Verfahren werden rechtsstaatlichen Kriterien nicht gerecht. Staatsschutzdelikte im syrischen Strafgesetzbuch sind unbestimmt und weit gefasst. Sie sind mit weitreichenden Strafandrohungen verbunden. Für die Geheimdienste besteht keine Notwendigkeit, konstruierte Straftatvorwürfe allgemeiner Natur zur Verfolgung aus politischen Gründen zu instrumentalisieren, denn Basis für Gerichtsentscheidungen sind unabhängig vom Ergebnis von Beweisaufnahmen die von den Geheimdiensten (unter Folter) erpressten Aussagen (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Syrien, Stand: Juni 2005). Dass die dringende Gefahr für den Kläger bestand, wegen des Angriffs auf den Präsidenten, der in der Zerstörung seines Bildes gesehen wird, aus politischen Gründen verhaftet, gefoltert und bestraft zu werden, liegt damit auf der Hand. Davor ist er aus seinem Heimatland geflohen. Da er den syrischen Behörden als Person bekannt ist, entsteht diese Gefahr wieder, sobald er sein Heimatland betritt. Mithin ist er als politisch Verfolgter zu betrachten.