VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 29.03.2006 - 9 L 137/06.A - asyl.net: M8085
https://www.asyl.net/rsdb/M8085
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Ausnahmsweise kommt zwar dennoch die Gewährung von Abschiebungsschutz in Betracht, wenn im Einzelfall einer Abschiebung wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unerlässlichen Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit entgegengewirkt werden müsste. Für diese Beurteilung ist jedoch ein gegenüber dem Prognosemaßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit noch erhöhter Maßstab anzulegen. Abschiebungsschutz ist nur dann zu gewähren, wenn praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6/95 -, BVerwGE 102, 249, Urteil vom 8. Dezember 1998, a.a.O., Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5/01 -, BVerwGE 115, 1).

Eine derartige Feststellung lässt sich für Sierra Leone anhand der aktuellen Auskunftslage nicht treffen. Diese geht dahin, dass die Möglichkeiten zur Existenzsicherung sehr eingeschränkt sind, viele erwerbslose Jugendliche ohne Familienverband in die größeren Städte, vor allem nach Freetown, gehen und dort mit Hilfsjobs, Betteln oder sonstigen Geschäften eine ärmliche Existenz führen. Sierra Leone steht seit Jahren auf dem letzten Platz des Index für menschliche Entwicklung des UN-Entwicklungsprogramms. Hohe und weiterhin steigende Preise für Nahrungsmittel, hohe Arbeitslosigkeit und die allgemein niedrigen Einkommen erschweren den Zugang zu Nahrungsmitteln vor allem für Gruppen wie Frauen und Kinder (vgl. AA, Auskunft vom 14. November 2005, Auskunft vom 13. Januar 2005 an das VG Gera; Le Monde diplomatique, "Versöhnung vor Recht" vom 14. Oktober 2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Sierra Leone: Psychiatrische Versorgung und sozioökonomischen Grundlagen bei Rückkehr einer Frau", vom 27. September 2005).

In anderen Auskünften wurde es als sehr schwierig für Alleinstehende bezeichnet, das eigene Überleben zu sichern, und als sehr unwahrscheinlich angesehen, in regulären Verhältnissen unterzukommen, die ein Überleben ermöglichten; Jugendliche seien in großer Gefahr, ins kriminelle Milieu abzugleiten oder im Großstadtgetümmel unterzugehen (vgl. amnesty international, Auskunft vom 20. Dezember 2004; Institut für Afrika-Kunde vom 19. Oktober 2004 (beide an das VG Gera)).

Sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Existenzsicherung bzw. eine nur ärmliche Existenz nach aktueller Erkenntnislage entsprechen aber nicht dem hohen Maßstab einer extremen Gefährdungslage dergestalt, dass jeder nach Sierra Leone Abgeschobene dort mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zu dieser Konkretisierung des Maßstabs: BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617/98 -, InfAuslR 1999, 265).