VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 03.03.2006 - 9 K 3016/03.A - asyl.net: M8104
https://www.asyl.net/rsdb/M8104
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungsandrohung, Glaubwürdigkeit, Zielstaatsbezeichnung, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Existenzminimum, Alleinstehende Personen, soziale Bindungen
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Zunächst liegen weder die Voraussetzungen für die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter noch diejenigen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor.

Die Kammer hat in ihrem Beschluss vom 20. April 2005 - 9 L 224/05.A - zur Lage in Sierra Leone ausgeführt: ...

Darüber hinaus erweist sich das Asylvorbringen selbst in Ansehung dessen, dass es den umgangssprachlichen Ausdruck für Flugzeug, den der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung benutzt hat, in der Fulla-Sprache in Sierra Leone gibt und er über eine Verletzung verfügt, die am ehesten auf eine Nervenschädigung nach einer Schnittverletzung im Unterarmbereich zurückzuführen ist, insgesamt als unglaubhaft.

Mit Blick darauf erscheint bereits nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger einen Bezug zu Sierra Leone aufweist.

Dies führt indes nicht auf eine Teilrechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung mit der Folge deren Aufhebung, soweit eine Abschiebung nach Sierra Leone angedroht worden ist.

Wird nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, in der Abschiebungsandrohung von der Angabe eines Zielstaates abzusehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2000 - 9 C 42/99 -, Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 111, 343), sind Abschiebungsverbote hinsichtlich des Staates zu prüfen, in den die Abschiebung ausdrücklich angedroht worden ist, ohne dass es auf die Möglichkeit eines Abschiebungserfolges dorthin oder auf die Frage der Staatsangehörigkeit ankommt (vgl., wenn auch noch zu Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG ergangen, BVerwG, Beschluss vom 1. September 1998 - 1 B 41/98 -, Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1999, 73, Urteil vom 4. Dezember 2001 - BVerwGE 115, 267; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 19. März 1998 - 18 B 2284/96 -, Ausländer- und asylrechtlicher Rechtsprechungsdienst (AuAS) 1998, 160; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6. Februar 1998 - 11 A 10716/97, AuAS 1998, 154; anderer Auffassung wohl für den Fall des Fehlens jeglichen Bezugs zum Zielstaat Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Dezember 1995 - 1 S 1345/95 -, juris).

Dem Kläger steht aber der mit dem Hilfsantrag verfolgte Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG im auch insoweit entscheidungserheblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) ebenfalls nicht zu.

Ferner kommt eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen der schlechten Existenzbedingungen der Bevölkerung im Zielstaat nicht in Betracht.

Ausnahmsweise kommt zwar dennoch die Gewährung von Abschiebungsschutz in Betracht, wenn im Einzelfall einer Abschiebung wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unerlässlichen Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit entgegengewirkt werden müsste. Für diese Beurteilung ist jedoch ein gegenüber dem Prognosemaßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit noch erhöhter Maßstab anzulegen. Abschiebungsschutz ist nur dann zu gewähren, wenn praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6/95 -, BVerwGE 102, 249, Urteil vom 8. Dezember 1998, a.a.O., Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5/01 -, BVerwGE 115, 1).

Eine derartige Feststellung lässt sich für Sierra Leone anhand der aktuellen Auskunftslage nicht treffen. Diese geht dahin, dass die Möglichkeiten zur Existenzsicherung sehr eingeschränkt sind, viele erwerbslose Jugendliche ohne Familienverband in die größeren Städte, vor allem nach Freetown, gehen und dort mit Hilfsjobs, Betteln oder sonstigen Geschäften eine ärmliche Existenz führen. Sierra Leone steht seit Jahren auf dem letzten Platz des Index für menschliche Entwicklung des UN-Entwicklungsprogramms (vgl. AA, Auskunft vom 14. November 2005, Auskunft vom 13. Januar 2005; Le Monde diplomatique, "Versöhnung vor Recht" vom 14. Oktober 2005).

In anderen Auskünften wurde es als sehr schwierig für Alleinstehende bezeichnet, das eigene Überleben zu sichern, und als sehr unwahrscheinlich angesehen, in regulären Verhältnissen unterzukommen, die ein Überleben ermöglichten; Jugendliche seien in großer Gefahr, ins kriminelle Milieu abzugleiten oder im Großstadtgetümmel unterzugehen (vgl. ai, Auskunft vom 20. Dezember 2004; IA vom 19. Oktober 2004).

Sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Existenzsicherung bzw. eine nur ärmliche Existenz nach aktueller Erkenntnislage entsprechen aber nicht dem hohen Maßstab einer extremen Gefährdungslage dergestalt, dass jeder nach Sierra Leone Abgeschobene dort mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zu dieser Konkretisierung des Maßstabs: BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617/98 -, InfAuslR 1999, 265. Auch außerhalb der Auskunftslage vermag die Kammer in diese Richtung gehende Anhaltspunkte in ihr zur Verfügung stehenden Quellen nicht zu erkennen. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass der Kläger aufgrund seines bestehenden Krankheitsbildes gehindert sein könnte, im Zielstaat wie die übrige Bevölkerung unter den dortigen Bedingungen seine Existenz zu sichern).