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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 01.03.2006 - VG 11 A 159/06 - asyl.net: M8114
https://www.asyl.net/rsdb/M8114
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, juvenile idiopathische Polyarthritis, juvenile Dermatomyositis, Stellungnahme, Bundesamt, Familie, Finanzierbarkeit, Krankenversicherung, Registrierung, Situation bei Rückkehr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Eilbedürftigkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; GG Art. 6; EMRK Art. 8; AufenthG § 72 Abs. 2
Auszüge:

Ein Anspruch der Antragstellerinnen zu 2. bis 4. auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergibt sich sowohl aus § 25 Abs. 3 Satz 1 wie auch aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Hinblick darauf, dass diese Antragstellerinnen seit langem in erheblichem Umfang erkrankt sind und ihnen nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand deshalb eine Rückkehr in ihr Herkunftsland Serbien-Montenegro und auch nicht nach Bosnien-Herzegowina zugemutet werden kann.

Soweit der Antragsgegner vor dem Hintergrund von drei negativen Stellungnahmen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 07. Oktober 2005 (betreffend die Antragstellerin zu 2., Bearbeiter Valentin), vom 08. Dezember 2005 (betreffend die Antragstellerin zu 3., Bearbeiter Reiser) und vom 05. Januar 2006 (betreffend die Antragstellerin zu 4., Bearbeiter Günther) daran festhält, dass ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt, vermag das Gericht dieser Bewertung auch nicht ansatzweise zu folgen, denn diese Stellungnahmen des BAMF vermögen in keiner Weise zu überzeugen und lassen auch nicht ansatzweise erkennen, dass die vielschichtigen Probleme des vorliegenden Falles auch nur annähernd erkannt worden sind.

Die Bearbeitung des Verfahrens der Antragsteller durch das BAMF begegnet nach Auffassung des Gerichts schon deshalb erheblichen Bedenken, weil es einen schweren konzeptionellen Mangel insofern aufweist, als die Antragstellerinnen zu 2. und 4. getrennt bearbeitet worden sind und hier die Familie nicht als Einheit gesehen und bearbeitet worden ist, was sich zur Überzeugung des Gerichts geradezu aufgedrängt hätte.

Hinsichtlich der von der Antragstellerin zu 2. geltend gemachten posttraumatischen Belastungsstörung wird in der Stellungnahme vom BAMF vom 07. Oktober 2005 behauptet, eine Rückkehr dieser Antragstellerin nach Serbien-Montenegro sei zumutbar, weil sowohl die von ihr geltend gemachte PTBS wie auch ihr Nierenleiden in Serbien-Montenegro behandelbar sei und "im Prinzip kostenlos". Was mit der Äußerung "im Prinzip kostenlos" gemeint ist, wird in der Stellungnahme vom 07. Oktober 2005 nicht näher dargelegt; diese Formulierung deutet vielmehr darauf hin, dass es offensichtlich doch Fälle geben kann und gibt, in denen die Behandlung eben nicht ohne Einsatz eigener Finanzmittel erfolgt. Die vom Antragsgegner eingeholte Stellungnahme des BAMF vom 07. Oktober 2005 betreffend die Antragstellerin zu 2. lässt außerdem erkennen, dass bei dem Bearbeiter des BAMF erhebliche Defizite hinsichtlich der Kenntnis der Struktur einer posttraumatischen Belastungsstörung und deren rechtlicher Bewertung existieren (vgl. dazu schon ausführlich Beschluss der Kammer vom 21. Dezember 2005 - VG 11 A 944.05 -). Die Stellungnahme im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der Antragstellerin zu 2. begegnet auch deshalb erheblichen inhaltlichen Richtigkeitszweifeln, als nach den inzwischen dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen das BAMF in anderen Fällen bei Ausländern aus Serbien-Montenegro bei einer PTBS ein Abschiebungshindernis bejaht hat. Nach welchen Kriterien im Fall einer solchen Erkrankung bei einem Ausländer aus Serbien-Montenegro ein Abschiebungshindernis bejaht bzw. verneint wird, ist gegenwärtig für das Gericht auch im Ansatz nicht erkennbar; hier verstärkt sich immer mehr der Eindruck einer willkürlichen Entscheidungspraxis durch das BAMF.

Die Erkrankung der Antragstellerin zu 4. - juvenile Dermatomyositis - ist nach der Stellungnahme des BAMF vom 08. Dezember 2005 in großen medizinischen Zentren behandelbar. Zudem gehe die Botschaft von einer Behandlung zu Lasten der staatlichen Krankenversicherung aus. Auch seien die benötigten Medikamente erhältlich. Weiterhin sei es der Familie zuzumuten, ihren Wohnsitz in der Nähe eines geeigneten Gesundheitszentrums in ihrem Heimatland zu nehmen, sofern geltend gemacht werden sollte, dass eine örtliche Erreichbarkeit der Krankenbehandlung nicht gegeben sei.

Nach den Recherchen der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller, die in dieser Weise eigentlich in den Aufgabenbereich des BAMF fallen und von diesem nach Auffassung des Gerichts in nur ungenügender Weise wahrgenommen worden sind, müssen sich die Antragsteller in Serbien-Montenegro im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsort ... begeben, um dort einen Krankenschein der staatlichen Versicherung zu erhalten. Nach den Recherchen der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller (vgl. Gesprächsvermerk vom 06. Februar 2006) erhält eine vierköpfige Familie in Serbien-Montenegro eine materielle Hilfe in Höhe von ca. 6.000,00 Dinar, was einem Betrag von etwa 100,00 Euro entspricht. Dieser Betrag, der die gesamte wirtschaftliche Existenzgrundlage für alle Antragsteller im Fall einer Rückkehr nach Serbien-Montenegro darstellen würde, ist jedoch bereits nach der Auskunft des BAMF vom 05. Januar 2006 erforderlich, um das lebensnotwendige Medikament Etanercept für die Antragstellerin zu 3. aus dem Ausland zu besorgen. Auch die Stadt Belgrad - Stadtzentrum für Sozialarbeit - hat in ihrer Auskunft vom 27. Januar 2006 an die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsteller mitgeteilt, es sei möglich, dass die Antragsteller einige erforderliche Medikamente kaufen müssten: "die Kosten würden in jedem Fall ein Problem für eine Familie darstellen, in der die Eltern arbeitslos sind".