VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.11.2005 - 2 K 2475/05 - asyl.net: M8116
https://www.asyl.net/rsdb/M8116
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Integration, Kinder, Aufenthaltsdauer, Duldung, Privatleben, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; EMRK Art. 8; AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

Eine einstweilige Anordnung, die nach ihrem Wesen und Zweck lediglich einen "vorläufigen Zustand" regeln darf, kann nur ergehen, wenn der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch, und die Notwendigkeit einer erforderlichen Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden, den sog. Anordnungsgrund, glaubhaft macht (§ 123 Abs. 1 S. 2. Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

Der Anordnungsanspruch ergibt sich daraus, dass es nach Aktenlage überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Antragsteller einen Anspruch auf vorübergehende Aussetzung seiner Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG hat (Duldung).

Vorbehaltlich einer weiter gehenden Prüfung durch die mit der Klage des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis befasste Kammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe (10 K 3872/04) sprechen nach der gegenwärtigen Erkenntnislage überwiegend Umstände dafür, anzunehmen, dass die Abschiebung des Antragstellers wegen eines sich aus Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) ergebenden inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses rechtlich unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 AufenthG).

Nach Art. 8 EMRK ist ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur zulässig, soweit er gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Damit gewährt Art. 8 EMRK zwar grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und verbietet nicht allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen nur deshalb, weil er sich schon eine bestimmte Zeit auf dem Gebiet eines Vertragsstaates der EMRK aufhält (vgl. EGMR, Entscheidung vom 16.09.2004 - 11103/03 -, NVwZ 2005, 1046; Entscheidung vom 07.10.2004 - 33743/03 -, NVwZ 2005, 1043). Jedoch kann sich die Abschiebung eines Ausländers dann als unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 EMRK gewährte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn sich der Ausländer erfolgreich in dem betreffenden Vertragsstaat persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat und die Merkmale eines sog. "faktischen Inländers" aufweist (dazu jüngst: EGMR, Entscheidung vom 27.10.2005 - 32231/01 -, "Keles ./. Bundesrepublik Deutschland"; VG Stuttgart, Urteil v, 11.10.2005 - 11 K 5363/03 -; Urteil v. 24.06.2004 - 11 K 4809/03 -, InfAuslR 2005, 106; VG Oldenburg, Beschluss v. 12.08.2003 - 12 B 2841/03 -, juris). In diesem Fall kann sich aus Art. 8 EMRK ausnahmsweise sogar ein Anspruch auf Legalisierung des Aufenthalts ergeben (vgl. EGMR, Entscheidung vom 16.06.2005 - 60654/00 - ("Sisojeva ./. Lettland"), InfAuslR 2005, 349). Um einen sog. "faktischen Inländer" handelt es sich vor allem bei einem im betreffenden Vertragsstaat geborenen Ausländer, also bei einem sog. "Ausländer der zweiten Generation". Jedoch sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die für diesen Fall entwickelten Grundsätze auch auf Ausländer anzuwenden, die zwar nicht in dem betreffenden Vertragsstaat geboren wurden, aber in einem relativ jungen Alter in diesen eingereist sind (dazu jüngst: EGMR, Entscheidung vom 27.10.2005 - 32231/01 "Keles ./. Bundesrepublik Deutschland").

Aufgrund der dem Gericht in diesem Verfahren vorliegenden Informationen ist es überwiegend wahrscheinlich, dass es sich beim Antragsteller um einen Ausländer handelt, auf den die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätze eines "faktischen Inländers" anzuwenden sind. Der im Jahr 1983 geborene Antragsteller - ein Staatsangehöriger von Serbien und Montenegro aus Kosovo und Angehöriger der Minderheit der Ashkali - reiste zusammen mit seiner Familie bereits im Alter von sieben Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein und führte erfolglos mehrere Asylverfahren durch. Er schloss hier erfolgreich die Schule sowie eine Berufsausbildung zum Restaurantfachmann ab. Der Antragsteller wurde von seinem Ausbildungsbetrieb - ausweislich der sich in den Akten des Antragsgegners befindlichen Bescheinigung vom 25.09.2005 - in ein Arbeitsverhältnis übernommen und als "selbständiger und zuverlässiger Mitarbeiter" bewertet. Ausweislich des aller Voraussicht nach vom Antragsteller selbst geschriebenen Schreibens an den Antragsgegner vom 18.10.2005 beherrscht er gut die deutsche Sprache, wohingegen er nur mittelmäßig albanisch spreche. Des Weiteren ist im vorliegenden Eilverfahren aufgrund der glaubhaften Angaben des Antragstellers davon auszugehen, dass er in seinem Heimatland über keine familiären Bindungen mehr verfügt. Seine drei Geschwister haben wohl einen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland, die Abschiebung seiner Eltern wird derzeit auf ihre rechtliche Zulässigkeit geprüft, die aufgrund der Lungenerkrankung seines Vaters gegenwärtig fraglich ist. Des Weiteren hat der Antragsteller nach Aktenlage keine Straftaten begangen.

Bei der Beachtung des sich aus Art. 8 EMRK ergebenden Rechts auf Achtung des Privatlebens im Rahmen der Vollstreckung der Ausreisepflicht (§ 60a Abs. 2 AufenthG) handelt es sich um keine Umgehung der Aufenthaltstitel gewährenden Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes (so aber: Renner, Ausländerrecht. Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 60. Rn. 49). Denn das sich aus Art. 8 EMRK ergebenden Recht auf Achtung des Privatlebens wurde in den §§ 16 bis 21 AufenthG und §§ 27 bis 38 AufenthG nicht abschließend umgesetzt. Vielmehr sind auch die vollstreckungsrechtlichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, insbesondere § 60a Abs. 2 AufenthG, sowie daran anknüpfende aufenthaltsrechtliche Vorschriften wie § 25 Abs. 5 AufenthG, im Lichte von Art. 8 EMRK auszulegen (zu § 30 Abs. 3 AuslG: BVerwG, Urteil v. 09.12.1997 - 1 C 20/97 -, juris; BVerwG, Urteil v. 09.12.1997 - 1 C 19/96 -, juris: sowie zur Beachtlichkeit der EMRK im Ausländerrecht und allgemein: BVerfG, Beschluss v. 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 -, juris; BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 -, NJW 2004, 3407 ff.).