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BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - asyl.net: M8142
https://www.asyl.net/rsdb/M8142
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Schutz von Ehe und Familie, deutsche Kinder, nichteheliche Kinder, gemeinsames Sorgerecht, Ausweisung, Drogendelikte, Sperrwirkung, Befristung
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; AufenthG § 11 Abs. 1; AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG und die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG.

1. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 6 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundes gebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 49 ff.>; 80, 81 93> ). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles.

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, S. 849 850> m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, S. 59). Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. zuletzt Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 - m.w.N.).

Bei der Auslegung und Anwendung der ausländerrechtlichen Vorschriften ist auch angemessen zu berücksichtigen, dass durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2942) die Rechtspositionen des Kindes und seiner Eltern sowohl hinsichtlich des gemeinsamen Sorgerechts als auch hinsichtlich des Umgangsrechts gestärkt worden sind. Seither ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange der Eltern und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Februar 2003 - 1 C 13/02 -, BVerwGE 117, 380 390 f.>).

2. Die angegriffene Entscheidung wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

Der Verwaltungsgerichtshof berücksichtigt die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG im Ausländerrecht nicht hinreichend. Dort sind die eigenständige Bedeutung des Vater-Kind-Verhältnisses und die damit verbundenen Kindeswohlgesichtspunkte wiederholt unterstrichen worden. Es wird zwar in der angegriffenen Entscheidung eine - auch aufenthaltsrechtlich - grundsätzlich schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne des Art. 6 GG ausdrücklich bejaht, doch nimmt die Entscheidung die Interessen des Kindes in den weiteren Ausführungen nicht in den Blick. Die pauschale Behauptung, es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Beschwerdeführerin "gerade auf die Hilfe des Antragstellers angewiesen" sei, verkennt den anzulegenden Maßstab und die im Verfahren ausführlich vorgetragenen Lebensumstände, wonach Mutter und Kind auf die Unterstützung des Beschwerdeführers handgreiflich angewiesen sind. Der Beschwerdeführer erbringt danach wesentliche elterliche Betreuungsleistungen und hat eine enge Bindung zu seiner Tochter.

Der Verwaltungsgerichtshof hat außerdem nicht zu erkennen geben, welchen Zeitraum einer vorübergehenden Trennung er im Hinblick auf das geringe Alter der Beschwerdeführerin für zumutbar erachtet (vgl. zu diesem Erfordernis den Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, S. 59 60>). Er hat auch nicht berücksichtigt, dass der von ihm zitierte Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 2000 - 2 BvR 440/00 - (veröffentlicht in Juris) einen Fall betraf, in dem das Kind anders als hier bereits 15 Jahre alt war und eine vorübergehende Trennung daher möglicherweise andere Auswirkungen hatte als bei einem - wie hier - noch sehr kleinen Kind, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt.