OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.04.2006 - 11 ME 120/06 - asyl.net: M8153
https://www.asyl.net/rsdb/M8153
Leitsatz:
Schlagwörter: Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Kinder, Familienangehörige, volljährige Kinder, Rücknahme, Ermessen, EuGH
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 5; ARB Nr. 1/80 Art. 7
Auszüge:

Aller Voraussicht nach hat der Antragsteller nämlich einen Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin nach § 48 Abs. 1, 5 VwVfG auf Rücknahme des Bescheides vom 29. September 2005.

Dieser Bescheid ist - zumindest nach der in diesem summarischen Verfahren nur möglichen Überprüfung - voraussichtlich rechtswidrig. Dem Antragsteller dürfte über Art. 7 Satz 1 1. und auch 2. Spiegelstrich ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zustehen; denn sein Vater war langjährig Arbeitnehmer im Bundesgebiet.

Ohne Bedeutung dürfte sein, ob der Antragsteller ernsthaft eine Arbeitsaufnahme im Bundesgebiet anstrebt. Allerdings hat der Senat in dem o.a. Beschluss vom 25. Juli 2005 in Übereinstimmung mit der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht die Auffassung vertreten, dass ein türkischer Staatsangehöriger sich nicht auf Art. 7 Satz 1 ARB berufen könne, wenn er von den beschäftigungsbezogenen Rechten gar keinen Gebrauch machen will, sich also gar nicht konkret um Stellen im Bundesgebiet bewirbt. Diese Rechtssprechung stand jedoch nicht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH. Dieser hatte bereits mit Urteil vom 7. Juli 2005 (C 373/03 - Aydinli - AuAS 2005, 182) ausgeführt, dass Art. 7 Satz 1 ARB den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers Zugang zu einer Beschäftigung gewähre, ihnen jedoch keine Verpflichtung auferlege, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben, wie dies in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehen sei. Ebenso ergibt sich aus jenem Urteil, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 auch auf volljährige türkische Staatsangehörige anzuwenden ist, die (mittlerweile) nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft mit ihren als Arbeitnehmer im Bundesgebiet tätigen Familienangehörigen zusammenleben, sondern ein vom Arbeitnehmer unabhängiges Leben führen. Da diese Rechtssprechung bereits bei Erlass des Bescheides vom 29. September 2005 ergangen war, erweist sich der Bescheid aller Voraussicht nach von Anfang an als rechtswidrig. (Dabei ist dem Senat allerdings bewusst, dass Ausländerbehörden aber auch Gerichte längere Vorlaufzeiten benötigen, bevor die Rechtsprechung des EuGH umgesetzt werden kann, zumal die Rechtsprechung hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger gerade in letzter Zeit erhebliche Neuerungen erbracht hat.)

Es spricht auch Überwiegendes dafür, dass die Antragsgegnerin im Rahmen des ihr nach § 48 Abs. 1, 5 VwVfG eingeräumten Ermessens verpflichtet ist, den ablehnenden Bescheid aufzuheben und eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Hierfür dürfte zum einen sprechen, dass - wie oben dargelegt - bereits im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheides eine gegenteilige Rechtsprechung des EuGH bestand. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von anderen Verfahren, in denen bestandskräftige Verwaltungsakte vorliegen, die sich erst aufgrund einer zeitlich nach dem Erlass jener Verwaltungsakte ergangenen Rechtsprechung des EuGH als "rechtswidrig" erweisen.