OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.12.2005 - 6 A 11184/05.OVG - asyl.net: M8157
https://www.asyl.net/rsdb/M8157
Leitsatz:

Keine Gefährdung für einfache Anhänger des früheren kommunistischen Staatschefs Nadjibullah in Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Verfolgungszusammenhang, Vorverfolgung, Kommunisten, DVPA, Khad, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

Keine Gefährdung für einfache Anhänger des früheren kommunistischen Staatschefs Nadjibullah in Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) haben die Kläger keinen Anspruch, gemäß Art. 16 a des Grundgesetzes - GG - als asylberechtigt anerkannt zu werden.

Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist.

Soweit der Kläger zu 1) wegen eines von ihm im Jahre 1990 begangenen Verrats befürchtete, von den Taliban verfolgt zu werden, wird eine politische Verfolgung nicht erkennbar. Dem Begriff der politischen Verfolgung wohnt insoweit ein finales Moment inne, als nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Menschen oder Gruppen zielenden Zugriff asylbegründende Wirkung zukommt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist erforderlich, dass die asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen sollen (BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, BVerfGE 80, 315 <335>). Dazu zählen - wie bereits erwähnt - die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere für den Asylbewerber unverfügbare Merkmale. Rechtsgutsverletzungen, die nicht an unverfügbaren Merkmalen anknüpfen, sondern an persönlichem Fehlverhalten, mögen rechtswidrig sein, eine politische Verfolgung stellen sie jedoch nicht dar.

Selbst wenn man annimmt, die Kläger hätten im Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan als (vermeintliche) Anhänger des früheren kommunistischen Staatschefs Nadjibullah mit Verfolgung seitens der Taliban rechnen müssen, können sie derzeit nicht (mehr) als vorverfolgt angesehen werden. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 1980 (BVerfGE 54, 341 = NJW 1980, 2641) kann einem Asylbewerber, der in der Vergangenheit bereits politisch verfolgt worden ist, bei Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatstaat der Schutz des Asylrechts versagt werden, wenn bei Rückkehr in diesen Staat eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Angesichts der Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit politischer Einstellungen und Ziele, welche eine Verfolgung auslösen können, bedarf es deshalb einer Prüfung, ob eine Vorverfolgung wegen bestimmter politischer Überzeugungen auch unter veränderten politischen Verhältnissen - wie etwa einem Regimewechsel - ein fortdauerndes Wiederholungsrisiko indiziert. Die Annahme einer Vorverfolgung setzt einen inneren Zusammenhang zwischen ihr und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt voraus, dass bei Rückkehr mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen ist oder das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung besteht (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997, BVerwGE 104, 97 = NVwZ 1997, 1134; Beschluss vom 21. Januar 2000 - 9 B 533/99 -, www.jurisweb.de). An diesem Zusammenhang zwischen einer (unterstellten) Vorverfolgung durch die Taliban und den Gefahren im Falle der Rückkehr der Kläger fehlt es indessen.

Auch insofern stellt sich zunächst die Frage der "Staatlichkeit" eines denkbaren Verfolgers (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. August 2000, NVwZ 2000, 1165 = InfAuslR 2000, 521, und vom 10. Juli 1989, BVerfGE 80, 315 <333 ff.> = InfAuslR 1990, 21). Ob die Regierung Hamid Karsais über Staatsgewalt in einem hinreichend großen Kernterritorium (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001, NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353) verfügt, kann offen bleiben. Denn von ihr geht eine Verfolgungsgefahr für ehemalige Kommunisten und deren Anhänger nicht aus (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 21. Juni 2005 und vom 29. November 2005).

Auch wenn man unterstellt, die aus den Reihen der Mudjaheddin hervorgegangenen Regierungsmitglieder übten - vom Regierungschef faktisch unabhängig - Staatsgewalt aus und unterstützten Verfolgungsmaßnahmen gegen Anhänger des früheren kommunistischen Staatschefs Nadjibullah, besteht für die Kläger im Rückkehrfall keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung. Die Kläger haben nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft im Jahre 1992 mehrere Jahre unbehelligt unter der Herrschaft der Mudjaheddin in Afghanistan gelebt. Gefährdungen durch diese Gruppe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 21. Juni 2005 und vom 29. November 2005) kann eine Gefährdung - auch an Leib und Leben - hochrangiger früherer Repräsentanten der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) bzw. herausragender Militärs und Polizeirepräsentanten sowie des Geheimdienstes Khad der kommunistischen Zeit durch Teile der Bevölkerung als mögliche Reaktion auf frühere Menschenrechtsverletzungen nicht ausschließen. Dr. Danesch hat in seinem dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht erteilten Gutachten vom 24. Juli 2004 u.a. ausgeführt, in Afghanistan bestehe letztlich ein Gewaltmonopol derjenigen fundamentalistisch-islamischen Kräfte, teilweise sogar derselben Personen, die im Jahre 1992 Präsident Nadschibullah gestürzt hätten und für die nachfolgende Verfolgung ehemaliger Kommunisten verantwortlich gewesen seien. Ein hochrangiges und altgedientes Mitglied der DVPA, das innerhalb einer kleinen Elite in heftigen Auseinandersetzungen mit späteren Mudschaheddin-Führern, wie Hektmatyar, Massud und Sayyaf, verstrickt gewesen sei und nach der DVPA-Machtergreifung im Jahre 1978 mit dem Geheimdienst Khad zusammengearbeitet habe, begebe sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan in größte Gefahr für Leib und Leben. Diese Einschätzung hat das Deutsche Orient-Institut unter dem 23. September 2004 in seiner Stellungnahme an das OVG Bautzen bestätigt. Danach spielt für die Beurteilung der Gefährdung eines Rückkehrers dessen Mitgliedschaft in der DVPA keine besondere Rolle, allerdings dessen (frühere) Position in obersten Gremien der DVPA - wie dem Zentralkomitee - und die Verursachung von Misshelligkeiten für andere Personen. Eine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung für - wie der Kläger zu 1) - bloße Anhänger des früheren kommunistischen Staatschefs Nadjibullah kann daraus nicht abgeleitet werden (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 11. November 2004, AuAS 2005, 71).

Zu Gunsten der Kläger besteht kein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG. Der von den Klägern begehrte asylrechtliche Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, der gemäß §§ 3, 4 AsylVfG mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention verbunden ist und daher grundsätzlich nur bei einer Verfolgung durch den Staat der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - durch den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts zugesprochen werden kann, steht ihnen aus den bereits im Zusammenhang mit dem Asylbegehren genannten Gründen nicht zu.

Sie können die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG aber auch nicht wegen einer staatsähnlichen oder nichtstaatlichen Verfolgung beanspruchen.

Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG setzt - ebenso wie das Asylrecht - begründete Furcht vor Verfolgung voraus, die dem Flüchtling in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an sonstige, für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielte Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, BVerfGE 80, 315 <333 ff.> = InfAuslR 1990, 21). Es ist bereits ausgeführt worden, dass die Kläger vor ihrer Ausreise keine in diesem Sinn politische Verfolgung erlitten haben und auch im Rückkehrfall nicht beachtlich wahrscheinlich mit Rechtsgutsverletzungen zu rechnen haben, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei den in Frage kommenden Akteuren um staatliche, staatsähnliche oder nichtstaatliche handelt.