VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 24.02.2006 - 8 G 206/06 - asyl.net: M8162
https://www.asyl.net/rsdb/M8162
Leitsatz:
Schlagwörter: Marokkaner, Europa-Mittelmeer-Abkommen, EuGH, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rücknahme, Bestandskraft, Rechtskraft, Vorlagepflicht
Normen: Europa-Mittelmeer-Abkommen EG/Marokko Art. 64 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 3; VwVfG § 48 Abs. 5; EG Art. 234 Abs. 3; VwGO § 121
Auszüge:

Der Antragsteller hat weder einen Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG noch auf eine Zurücknahme des Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 1, 3, 5 HVwVfG, mit welchem die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers ihrerseits zurückgenommen worden ist.

Ein zulässiger Antrag i.S.d. § 51 Abs. 1 HVwVfG auf Aufhebung der Verfügung der Antragsgegnerin vom 04.07.2000, mit welcher die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers zurückgenommen worden ist, liegt vor.

Der Antrag ist auch nicht durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts A-Stadt vom 22.07.2004 (Az.: 8 E 1937/01) ausgeschlossen. Denn mit der Bindungswirkung des § 121 VwGO bezweckt das Verwaltungsprozessrecht den Ausschluss einander widerstreitender gerichtlicher Entscheidungen. Was durch eine gerichtliche Entscheidung einmal klargestellt worden ist, soll - zur Erhaltung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Beständigkeit des Rechts - nicht zum Gegenstand neuen Streites werden, auch wenn nicht zu vermeiden ist, dass sich eine Entscheidung im Einzelfall als unrichtig erweist (BVerwG, Urt. v. 28.07.1989 - 7 C 78.88 -, BVerwGE 82, 272 [273]). Unabhängig hiervon gibt die hier einschlägige Vorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG der Verwaltungsbehörde auf, in Bestandskraft erwachsene belastende Verwaltungsakte mit Rücksicht auf eine veränderte Rechts- oder Sachlage zu korrigieren. Das Interesse an der Rechtsbeständigkeit einer Entscheidung muss nach der gesetzlichen Regelung dem - rechtsstaatlich ebenfalls bedeutsamen - Richtigkeitsinteresse weichen, wenn zum Zwecke einer gerechteren Entscheidungsfindung ein Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen und aufgrund neuer Rechtssprechung oder einer veränderten Sachlage eine von dem rechtskräftig bestätigten Erstbescheid abweichende, dem Antragsbegehren entsprechende Verwaltungsentscheidung zu treffen ist.

Der Antrag i.S.d. § 51 Abs. 1 HVwVfG ist unbegründet. Ob der hier allein in Betracht kommende Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG in Fällen einschlägig ist, welchen eine Änderung der Rechtsprechung zugrunde liegt, kann hier dahinstehen, da weder die von dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft statuierten und von Seiten des Antragstellers geltend gemachten Voraussetzungen für eine durch das Gemeinschaftsrecht gebotene Rücknahme eines bestandskräftigen belastenden Verwaltungsaktes noch die von dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft aufgestellten Voraussetzungen eines aus Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens/Marokko abgeleiteten Aufenthaltsrechts vorliegen.

Der Europäische Gerichtshof hat in einem Urteil vom 13.01.2004 (Rs. C-453/00 -, Kühne & Heitz NV) Voraussetzungen aufgestellt, unter welchen Voraussetzungen mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden in Vollzug des Gemeinschaftsrechts nach dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet sind, bestandskräftige Verwaltungsakte zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzunehmen, um der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen.

Danach müssen folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:

Erstens muss die Verwaltungsbehörde nach nationalem Recht befugt sein, bestandskräftige Verwaltungsakte zurückzunehmen. Dies ist aufgrund der Regelungen in §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 1 HVwVfG, wonach ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, durch Zurücknahme bzw. Widerruf aufgehoben werden kann, der Fall.

Auch die zweite durch den Europäische Gerichtshof aufgestellte Voraussetzung, nach der der Verwaltungsakt seine Bestandskraft erst infolge eines Urteils eines nationalen Gerichts erlangt haben muss, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar sind, ist erfüllt. Die Rücknahmeverfügung der Antragsgegnerin wurde mit dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 18.05.2005 (Az.: 9 zu 2993/04), mit welchem die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts A-Stadt vom 22.07.2004 (Az.: 8 E 1937/01) abgelehnt wurde, rechtskräftig, da diese Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbar war.

Die dritte Voraussetzung, wonach das Urteil, durch welches die Bestandskraft des Verwaltungsaktes bewirkt wurde, auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen muss, die sich angesichts eines später ergangenen Urteils des Europäische Gerichtshof als unrichtig erweist und die unter Missachtung der Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG ergangen sein muss, ist vorliegend nicht gegeben. Zwar ist der Hessische Verwaltungsgerichtshof, durch dessen Beschluss die Zulassung der Berufung abgelehnt wurde, ein im konkreten Verfahrenszug letztinstanzliches Gericht und unterliegt damit der Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG (vergl. Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft vom 06.10.1982 - Rs. 283/81 -, C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità, Slg. 1982, S. 3415). Es liegt aber kein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vor, aus dem abgeleitet werden könnte, dass sich in einer dem Antragsteller vergleichbaren Situation ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens/Marokko ergibt.

Auf Grund des am 25.01.2005 an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft gerichteten Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts A-Stadt zu Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens/Marokko (Az.: 8 E 2499/04) kann der Antragsteller nicht eine Rücknahme der seine Aufenthaltserlaubnis betreffenden Rücknahmeverfügung durch die Antragsgegnerin verlangen, da die Entscheidung dieser Auslegungsfrage durch den Europäische Gerichtshof noch aussteht. Unter diesen Umständen kann die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet sein, dem Rücknahmeantrag stattzugeben.

Es besteht für das Gericht auch keine Notwendigkeit, die Entscheidung des Europäische Gerichtshof über den Vorlagebeschluss des VG A-Stadt abzuwarten und die Abschiebung des Antragsteller einstweilen auszusetzen. Denn der Antragsteller wird aus der möglichen Entscheidung des Europäische Gerichtshof keine Rechte ableiten können. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache El-Yassini (Urteil vom 02.03.1999 - Rs. C-416/96 = InfAuslR1999, 218). In jener Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof in Bezug auf Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens EWG/Marokko (heute: Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko) ausgeführt, dass es einem Mitgliedstaat verwehrt ist, einem Betroffenen durch eine Aufenthaltsbeendigung das Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das ihm durch eine von der zuständigen nationalen Behörde ordnungsgemäß erteilte Arbeitserlaubnis erteilt wurde, die länger gültig ist als die Aufenthaltserlaubnis, zu entziehen, sofern nicht Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, nämlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, dies rechtfertigen.