VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 09.02.2006 - 2 UZ 3768/04.A - asyl.net: M8165
https://www.asyl.net/rsdb/M8165
Leitsatz:

Keine Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vor Umsetzung in deutsches Recht.

 

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Anerkennungsrichtlinie, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; RL 2004/83/EG
Auszüge:

Keine Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vor Umsetzung in deutsches Recht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger leitet die rechtsgrundsätzliche Bedeutung seiner Streitsache insbesondere aus der nach seiner Auffassung klärungsbedürftigen Fragestellung ab, ob und inwieweit die in der sog. "Qualifikationsrichtlinie" (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. EU Nr. L 304/S. 12 vom 30. September 2004) festgeschriebenen Mindestnormen bereits jetzt - nämlich vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 - als geltendes Recht anzusehen und von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie von den Verwaltungsgerichten zwingend anzuwenden sind.

Bereits durch Beschluss vom 2. Mai 2005 (- 14 B 02.30703 -, juris) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich des nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewährenden Abschiebungsschutzes unter Hinweis auf BVerfGE 76, 143, 158 f. und BVerwGE 120, 16, 19 f. entschieden, dass dem Ausländer ein Verzicht auf eine Glaubensbetätigung nach außen auch im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zumutbar sei, ein weitergehender Schutzanspruch des Einzelnen im Hinblick auf eine über den Kernbereich der Religionsausübung hinausgehende Glaubensbetätigung demgegenüber insbesondere auch nicht aus Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 abgeleitet werden könne.

Soweit der Kläger sinngemäß die Frage aufwirft, ob die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über "Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes" - sog. Qualifikationsrichtlinie - bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist von den Gerichten zu beachten ist, ergibt sich eine Klärung bereits aus dem Zusammenhang mit anderen europarechtlichen Regelungen. Aus Art. 249 Abs. 3 EGV folgt, dass sich Richtlinien allein an die Mitgliedstaaten richten (hierzu: von der Groeben/Schwarze, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., Art. 249 Rdnr. 37). Der Einzelne kann grundsätzlich erst nach der Umsetzung durch nationales Recht aus den entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften berechtigt und verpflichtet werden. Nur in den Fällen, in denen ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgerecht oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat und in denen die Bestimmungen der Richtlinie unbedingt und hinreichend genau sind, kann sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen. Dies ist hier jedoch nicht der Fall, weil die Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtlinie gemäß Art. 38 Abs. 1 dieser Richtlinie erst am 10. Oktober 2006 abläuft (vgl. hierzu Bay. VGH, B. v. 02.05.2005 - 14 B 02.30703 -; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 18.05.2005 - 11 A 533/05.A - beide zit. n. juris). Auch folgt aus der Umsetzungsfrist, dass den Mitgliedstaaten kein Vorwurf gemacht werden darf, wenn sie eine Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihrer Rechtsordnung umsetzen (VGH Baden-Württemberg, B. v. 12.05.2005 - 3 S 358/05 - InfAuslR 2005, 296). Zwar hat ein Staat vor Umsetzung einer EU-Richtlinie in nationales Recht gewisse vorgezogene Verhaltenspflichten zu beachten. So dürfen die Ziele der Richtlinie nicht unterlaufen und keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, die dem Staat die Erfüllung der durch die Richtlinie begründeten Pflichten unmöglich machen (so für den Bereich der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie: BVerwG, U. v. 19.05.1998 - 4 A 9.97 - UPR 1998, 384). Bei der einzelfallbezogenen Auslegung der Regelungen des Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes durch die Verwaltungsgerichte können jedoch weder in faktischer noch in rechtlicher Hinsicht vollendete Tatsachen geschaffen werden, die die Erfüllung der durch die Richtlinie begründeten Pflichten der Bundesrepublik Deutschland bei Fristablauf unmöglich machen. Somit sind die mit Ausländer- und Asylrecht befassten Verwaltungsrichter ab Verkündung des Umsetzungsgesetzes bzw. Ablauf der Umsetzungsfrist daran gebunden. Dies bedeutet zugleich, dass sich ein Ausländer wie der Kläger zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht mit Erfolg auf einzelne Richtlinienvorgaben und Vorgaben berufen kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, a. a. O.).