VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 12.01.2006 - 5 E 1549/03.A(4) - asyl.net: M8166
https://www.asyl.net/rsdb/M8166
Leitsatz:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG ist auch auf subjektive Nachfluchtgründe anwendbar, die vor dem 1.1.2005 geschaffen wurden.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, subjektive Nachfluchtgründe, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Konversion, Apostasie, Christen, religiös motivierte Verfolgung, Schule, Religionsunterricht, Kinder, Drei-Monats-Frist, Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG ist auch auf subjektive Nachfluchtgründe anwendbar, die vor dem 1.1.2005 geschaffen wurden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Der nunmehr ausschließlich geltend gemachte subjektive Nachfluchtgrund der Konversion ist gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG präkludiert.

Diese durch das Zuwanderungsgesetz eingeführte Vorschrift ist im vorliegenden Verfahren im Hinblick auf § 77 Abs. 1 AsylVfG und mangels anders lautender Übergangsvorschriften anwendbar, auch wenn das Asylfolgeverfahren bei Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 01.01.2005 bereits anhängig und das Klageverfahren rechtshängig waren. § 28 Abs. 2 AsylVfG gilt auch für die Fälle, in denen einem Schutzsuchenden, der bereits vor längerer Zeit, als die Einführung der genannten Vorschrift noch nicht absehbar war, Nachfluchtgründe geschaffen hat. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nimmt bewusst in Kauf, dass Rechtsänderungen zu Lasten des Schutzsuchenden Anwendung finden; die Norm dient nicht der Einzelfallgerechtigkeit (OVG Nordrh.-Westf., Urt. v. 12.07.2005 - 8 A 780/04.A - InfAuslR 2005, 489 m. w. Nachw.).

Vorliegend ist der Regelfall des § 28 Abs. 2 AsylVfG gegeben. Die Kläger zu 2) bis 4) haben mit ihrem Übertritt zum Christentum, der mit ihrer Taufe am 26.12.2005 nach außen dokumentiert worden ist, erst lange nach Inkrafttreten der Neuregelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG und damit aus eigenem Entschluss - sehenden Auges - einen subjektiven Nachfluchtgrund geschaffen.

Eine andere Betrachtung ist auch für den Kläger zu 1) nicht geboten. Ein ausnahmsweises Abweichen von dem gesetzlichen Regelfall kommt nicht in Betracht, auch wenn der Kläger sich bereits im April 2003 hat taufen lassen und somit lange vor Inkrafttreten des § 28 Abs. 2 AsylVfG einen subjektiven Nachfluchtgrund geschaffen hat. Denn § 28 Abs. 2 AsylVfG knüpft an die zu § 28 Abs. 1 AsylVfG entwickelten Grundsätze an, wonach auch dann, wenn nach Abschluss des ersten Asylverfahrens vom Asylbewerber aus eigenem Entschluss geschaffene Verfolgungsgründe mangels Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht in der Regel nicht zur Asylgewährung führen können, auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgeschlossen sein soll. Eine Ausnahme ist nach beiden Regelungen - nach Abs. 1 und Abs. 2 AsylVfG - nur dann anzunehmen, wenn der Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht. Dies ist hier nicht der Fall.

Den Klägern ist jedoch Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Für die Kläger bestünde im Falle einer Abschiebung in den Iran eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne der genannten Vorschrift aufgrund ihres Übertritts zum Christentum.

Die 10-jährigen Klägerinnen zu 3) und 4), die Zwillingstöchter der Kläger zu 1) und 2), sprechen fließend Deutsch und nehmen ausweislich der vorgelegten Schulzeugnisse mit großem Erfolg (Note 1) am evangelischen Religionsunterricht teil. Bei einer Rückkehr in den Iran würden sie existenziellen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, die eine Rückkehr unzumutbar machen. Diese Annahme liegt darin begründet, dass die Kinder verpflichtet wären, sich in ein islamisch-fundamentalistisches Schulsystem einzugliedern und an dem streng religiös geprägten Unterricht teilzunehmen. Eine Möglichkeit, sich den Schulgebeten und dem Koranunterricht zu entziehen, besteht für konvertierte Muslime in einem Staat, der eine Trennung von Staat und Kirche - im Sinne von Religion - nicht kennt, dem der Grundsatz der Säkularität fremd ist, nicht. Die obligatorische Teilnahme am staatlichen, islamisch geprägten Unterricht mit seinen religiösen Riten widerspräche jedoch dem Kernbereich der von Art. 4 Abs. 1 GG umfassten negativen Religionsfreiheit, d. h. der Freiheit, eine religiöse Überzeugung auch ablehnen zu können (vgl. Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 4 Rdnr. 11).

Zwar gibt es im Iran auch christlich geführte Schulen unter der Trägerschaft christlicher Kirchen, diese werden jedoch nur von den seit Jahrhunderten im Iran ansässigen Angehörigen der christlichen Armenier und Assyrer, jedenfalls nicht von Kindern von Konvertiten, besucht (vgl. hierzu: Danish Immigration Service [DIS], "Report on fact finding mission to Iran" v. 01.10.2000, www.ecoi.net).

Von Kindern im Alter der Klägerinnen zu 3) und 4) kann auch nicht erwartet werden, dass sie sich in der Schule den religiösen Vorgaben anpassen und sich "verstellen". Die ethisch-religiösen Widersprüche, die sich aus einer christlichen Erziehung im Elternhaus und den Anforderungen an die religiöse Betätigung in der Schule ergäben, könnten von den Klägerinnen zu 3) und 4) auch nicht geheim gehalten werden. Da aber ein Religionswechsel von den Machthabern im Iran als Tätigkeit in einer verbotenen politischen Partei verstanden wird, wären die Klägerinnen im Falle einer Rückkehr in den Iran einer ernsthaften und konkreten Gefahr i. S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt (DOI: Auskunft an Sächs. OVG v. 06.12.2004).

Gleiches gilt auch für die Eltern, die Kläger zu 1) und 2). Es kann dahingestellt bleiben, ob und in welchem Umfang für diese bei einer Rückkehr in den Iran das religiöse Existenzminimum gewährleistet wäre und ob ein weitergehender Schutzanspruch aus Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - abgeleitet werden kann (vgl. Urt. v. 10.11.2005 - 5 E 1749/03[4] -), jedenfalls könnten sich die Kläger zu 1) und 2) zwangsläufig aufgrund ihrer Kontakte zur Schule ihrer Kinder glaubensmäßig nicht in den privaten Bereich zurückziehen. Sie könnten ihren Glaubenswechsel nicht geheim halten. Das Gericht teilt die von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass eine Konversion in Deutschland dann unter Zugrundelegung des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- und abschiebungsrelevant ist, wenn diese staatlichen, halbstaatlichen oder anderen Institutionen, denen gegenüber der Staat Schutz nicht gewährt, bekannt und von diesen als Bedrohung für den islamischen Staat bewertet wird (OVG Hamburg, Urt. v. 29.08.2003 - 1 Bf 11/98.A -; BayVGH, Beschl. v. 31.05.2001 - 19 B 99.31964 -; Nieders. OVG, Urt. v. 27.03.2001 -5 L 463/00 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 10.12.2003 - K 8876/02.A -; VG Darmstadt, Urt. v. 12.12.2003 -5 E 30618/99.A -). Dies ist hier aufgrund der familiären Situation der Fall.