OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.03.2006 - 11 ME 315/05 - asyl.net: M8186
https://www.asyl.net/rsdb/M8186
Leitsatz:

1. Ist dem minderjährigen Ausländer durch die Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland im Wege des Sichtvermerks eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Kindernachzugs erteilt worden, stellt der nach Einreise gestellte Antrag nicht einen (Erst-)Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dar, sondern einen Verlängerungsantrag.

2. Gegenüber dem Antrag eines minderjährigen Ausländers auf Verlängerung der ihm zum Zwecke des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis kann sich die Ausländerbehörde nicht darauf berufen, der Antragsteller habe die maßgebliche Altersgrenze inzwischen überschritten.

 

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Visum, Verlängerung, nationales Visum, Aufenthaltstitel, Familienzusammenführung, Kinder, Alter, Kindernachzug
Normen: AufenthG § 34 Abs. 1; AuslG § 3 Abs. 3 S. 1; AufenthG § 4 S. 2 Nr. 1; AufenthG § 6 Abs. 4; AufenthG § 8 Abs. 1; AufenthG § 32 Abs. 2; AufenthG § 32 Abs. 3
Auszüge:

1. Ist dem minderjährigen Ausländer durch die Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland im Wege des Sichtvermerks eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Kindernachzugs erteilt worden, stellt der nach Einreise gestellte Antrag nicht einen (Erst-)Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dar, sondern einen Verlängerungsantrag.

2. Gegenüber dem Antrag eines minderjährigen Ausländers auf Verlängerung der ihm zum Zwecke des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis kann sich die Ausländerbehörde nicht darauf berufen, der Antragsteller habe die maßgebliche Altersgrenze inzwischen überschritten.

(Amtliche Leitsätze)

 

Der Antragsteller hat voraussichtlich einen Anspruch auf Verlängerung der ihm im Wege des Sichtvermerks durch die Deutsche Botschaft in Ankara erteilten Aufenthaltserlaubnis vom 26. Januar 2005. Nach § 34 Abs. 1 AufenthG ist die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 zu verlängern, so lange u.a. ein personensorgeberechtigter Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bestreitet die Antragsgegnerin mit der Begründung, bei dem von dem Antragsteller am 11. Februar 2005 gestellten Antrag handele es sich nicht um einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sondern um einen Antrag auf (Erst-)Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der am 26. Januar 2005 durch die Auslandsvertretung für einen befristeten Zeitraum ausgestellte Sichtvermerk dürfe nicht als Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis missverstanden werden. Bei dem Sichtvermerk handele es sich weder nach dem AuslG noch nach dem AufenthG um eine Aufenthaltserlaubnis. Mit diesem Vorbringen dringt die Antragsgegnerin nicht durch.

Dem Antragsteller wurde am 26. Januar 2005 eine befristete Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Kindernachzugs erteilt. Dass die Aufenthaltsgenehmigung in Form eines Sichtvermerks erteilt wurde, ändert nichts an der Rechtsqualität als Aufenthaltserlaubnis. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AuslG ist die Aufenthaltsgenehmigung vor Einreise in Form des Sichtvermerks (Visum) einzuholen. Das Visum ist demnach formell eine Aufenthaltsgenehmigung, obwohl es in § 5 Abs. 1 AuslG, der als Arten der Aufenthaltsgenehmigung Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltsbewilligung und Aufenthaltsbefugnis aufführt, nicht erwähnt wird. Es handelt sich um eine eigenständige Form der Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung neben der Erteilung vor oder nach der Einreise gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AuslG i.V.m. §§ 9, 10 DVAuslG. Voraussetzungen und Inhalt richten sich hingegen nach den §§ 5 ff. AuslG. In der Sache ist das Visum deshalb je nach Zweck und Dauer des Aufenthalts Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsbefugnis (Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 3 Rdnr. 25 u. § 5 Rdnr. 5). Bei dem dem Antragsteller am 26. Januar 2005 ausgestellten Sichtvermerk handelt es sich um eine Aufenthaltserlaubnis. Unter Anmerkungen wird in dem Visum als Grund der Einreise "Familienzusammenführung" angegeben. Die Aufenthaltsgenehmigung nimmt damit Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. November 2004 – VG 25 A 250.02 -, mit dem die Deutsche Botschaft in Ankara verpflichtet wurde, dem Antragsteller auf der Rechtsgrundlage der §§ 20 Abs. 2 i.V.m. 17 Abs. 2 AuslG die beantragte Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks zum Zwecke des Kindernachzugs zu erteilen.

An dieser Rechtslage hat sich nach Inkrafttreten des AufenthG nichts geändert. Zwar wird das Visum jetzt als eigenständiger Aufenthaltstitel in § 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG neben Aufenthaltserlaubnis und Niederlassungserlaubnis erwähnt. Damit entfällt aber lediglich für das kurzfristige Schengen-Visum nach § 6 Abs. 1-3 AufenthG die Notwendigkeit einer Fiktion der Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Auslandsvertretungen (Hailbronner, AuslR, Kommentar, Stand: Februar 2006, § 6 AufenthG Rdnr. 2). Für längerfristige Aufenthalte verlangt das Gesetz in § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - wie bisher in § 3 Abs. 3 Satz 1 AuslG - ein Visum, das vor der Einreise eingeholt werden muss (nationales Visum). Dazu bedarf es der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis nach den Regeln der §§ 7 ff. AufenthG, die in der Form eines Visums durch die deutschen Auslandsvertretungen ausgestellt wird (Hailbronner, a.a.O., § 6 AufenthG Rdnr. 2). Mit dem Begriff des Visums wird somit auch unter der Geltung des AufenthG lediglich die Form des Aufenthaltstitels beschrieben. Der materielle Gehalt des Titels richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis und Niederlassungserlaubnis geltenden Vorschriften (vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).

Die Antragsgegnerin kann dem Antragsteller nicht entgegen halten, er erfülle nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1, Abs. 2 oder Abs. 4 AufenthG. Der Antragsteller begehrt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 AufenthG. Ein solcher Fall ist gegeben, wenn die weitere lückenlose Zulassung des Aufenthalts ohne Wechsel des Aufenthaltstitels bzw. des Aufenthaltszwecks begehrt wird. Daran kann nach dem Vorgesagten kein Zweifel bestehen. Zwar finden nach § 8 Abs. 1 AufenthG auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Diese gesetzliche Regelung eröffnet aber nicht in jedem Fall den Rückgriff auf die für die Erteilung des Aufenthaltstitels geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Zum Teil sind die dort genannten Voraussetzungen auf die erstmalige Erteilung des Aufenthaltstitels zugeschnitten. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Altersgrenze für den Kindernachzug in § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG. Die Altersgrenze ist deshalb für den Antrag eines minderjährigen Ausländers auf Verlängerung der ihm zum Zwecke des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis bedeutungslos (Hailbronner, a.a.O., § 8 AufenthG Rdnr. 4; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 8 AufenthG Rdnr. 4; Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 20 AuslG Rdnr. 21). Die Antragsgegnerin hat deshalb zu Unrecht die begehrte Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung versagt, die

Voraussetzungen des § 32 Abs. 1, Abs. 2 oder Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor. Insbesondere ist es der Antragsgegnerin verwehrt, den Antragsteller gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG als minderjähriges lediges Kind, welches das 16. Lebensjahr vollendet hat, einzustufen und von ihm das Beherrschen der deutschen Sprache bzw. eine positive Integrationsprognose zu verlangen. Der Antragsteller hatte zwar zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrags vom 11. Februar 2005 das 16. Lebensjahr vollendet und hätte deshalb im Falle eines Antrags auf (Erst-)Erteilung der Aufenthaltserlaubnis die Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 AufenthG erfüllen müssen. Dem Antragsteller kommt aber zugute, dass ihn das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 19. November 2004 – VG A 250.02 – wegen der Stellung des Visumsantrags am 29. April 2002 vor Vollendung des 16. Lebensjahres als Minderjährigen im Sinne des § 20 Abs. 2 AuslG betrachtet und das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift bejaht hat. Der Antragsteller ist deshalb auch in dem vorliegenden Verfahren auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als Minderjähriger im Sinne der Vorschrift des § 32 Abs. 3 AufenthG, der § 20 Abs. 2 AuslG abgelöst hat, zu behandeln.