VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 16.02.2006 - 5 B 623/05 - asyl.net: M8189
https://www.asyl.net/rsdb/M8189
Leitsatz:

Die Entscheidung nach § 456a StPO begründet bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen regelmäßig kein besonderes Vollzugsinteresse für den Sofortvollzug einer Ausweisung.

Ein dringender Fall im Sinne der Richtlinie 64/221/EWG liegt nur vor, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende Gefahr (der Begehung neuer Straftaten) werde sich vor dem Abschluss eines Widerspruchsverfahrens verwirklichen.

 

Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Haft, Gefahrenprognose, Sofortvollzug, Staatsanwaltschaft, Strafvollstreckung, Strafhaft, Widerspruch, Ermessen, dringender Fall, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80b Abs. 1; StPO § 456a; RL 64/221/EWG Art. 9; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Entscheidung nach § 456a StPO begründet bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen regelmäßig kein besonderes Vollzugsinteresse für den Sofortvollzug einer Ausweisung.

Ein dringender Fall im Sinne der Richtlinie 64/221/EWG liegt nur vor, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende Gefahr (der Begehung neuer Straftaten) werde sich vor dem Abschluss eines Widerspruchsverfahrens verwirklichen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 01.09.2005 ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen.

Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruchs- und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung nur in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, besonders angeordnet wird. Gemäß § 80 Abs. 3 VwGO ist in den Fällen des Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen.

Zweifel bestehen vorliegend bereits im Hinblick auf § 80 Abs. 3 VwGO.

Letztlich kann diese Frage dahingestellt bleiben, denn der Antragsteller hat ausreichend dargelegt, dass es derzeit an einem besonderen öffentlichen Vollzugsinteresse im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO fehlt, hinter dem sein Interesse an der aufschiebenden Wirkung der Klage zurückzutreten hätte. Dies gilt bereits unabhängig von der Frage, ob sich die Ausweisung im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen wird. Im Rahmen der Überprüfung des Sofortvollzuges von Ausweisungsentscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist zwar die summarische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung wesentliches Element der Interessenabwägung, aber sie ersetzt nicht die Prüfung, ob überhaupt ein besonderes öffentliches Sofortvollzugsinteresse vorliegt; es bedarf daher der Feststellung begründeter Anhaltspunkte dafür, dass die Gefahr erneuter Straftaten in der Zeitspanne bis zur Entscheidung der Hauptsache besteht (OVG Hamburg, Entsch. vom 04.02.2005 - 4 Bs 518/04 - juris - mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes). Zu berücksichtigen ist bei dieser Entscheidung die Frist des § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das bedeutet, bei der Frage, ob vom Antragsteller eine solche besondere Gefährdung ausgeht, ist nicht auf die rechtskräftige Beendigung des Verfahrens nach ggf. drei Instanzen abzustellen, sondern nur auf die in § 80b VwGO genannte Frist. Innerhalb dieser Frist muss vom Antragsteller eine besondere Gefährdung im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ausgehen. Während der Inhaftierung des Antragstellers, der erst im Juli 2008, auch bei 2/3-Verbüßung erst im Juli 2007 aus der Haft entlassen werden wird, ist die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten nicht gegeben. Innerhalb diese Zeitraumes ist mit einem Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu rechnen. Bei einer vorzeitigen Entlassung des Antragstellers bliebe es dem Antragsgegner unbenommen, erneut den Sofortvollzug anzuordnen. Bei einer Entlassung zum 2/3-Zeitpunkt im Juli 2007 müsste eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 57 StGB ergehen, die darin enthaltene Prognose wäre bei der erneuten Anordnung des Sofortvollzuges zu beachten (vgl. OVG Hamburg, aaO.).

Das Interesse des Antragstellers, das Klageverfahren gegen seine Ausweisung jedenfalls bis zum Ablauf der Frist des § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO vom Bundesgebiet aus betreiben zu können, hat auch nicht deshalb zurückzutreten, weil die Staatsanwaltschaft von § 456a StPO Gebrauch machen will. Die Vermeidung der weiteren Strafvollstreckung aus fiskalischen Gründen bzw. zum Zweck der Entlastung begrenzter Haftkapazitäten begründet regelmäßig kein besonderes öffentliches Interesse im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 3 VwGO, das über das öffentliche Interesse an der Ausweisung selbst hinausgeht, und dem der Vorrang gegenüber dem Interesse des Ausländers an der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage gebührt.

Bereits aus diesen Gründen ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die angefochtene Verfügung wiederherzustellen.

Es bestehen allerdings auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung, weil ein Widerspruchsverfahren nicht stattgefunden hat.

Nach der Richtlinie 64/221/EWG kann auf das Widerspruchsverfahren gem. § 68 VwGO bei der Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nur in einem sog. dringenden Fall verzichtet werden (BVerwG aaO.). Nach dem oben Gesagten besteht jedoch im Rahmen der Frist des § 80b Abs. 1 VwGO keine besondere, die sofortige Vollziehung rechtfertigende Gefahr (der Begehung weiterer Straftaten) durch den Antragsteller. Zur Frage, wann ein dringender Fall vorliegt, verhält sich der EuGH in der einschlägigen Rechtsprechung nicht. Das Bundesverwaltungsgericht (aaO., S. 7 f. des Abdrucks) geht davon aus, dass die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles i.S.d. Richtlinie den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts ähneln. Ein dringender Fall kommt danach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis besteht, die vom Ausländer ausgehende Gefahr (neuer Straftaten) werde sich "schon vor Abschluss des Hauptverfahrens" realisieren. Abzustellen wäre insoweit zur Überzeugung der erkennenden Kammer aber nicht auf den Abschluss eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens oder die Frist des § 80b Abs. 1 VwGO, sondern darauf, ob vom Antragsteller bis zum Abschluss eines potenziellen Widerspruchsverfahrens eine besondere Gefährdung ausgeht, die als Ausnahme vom Grundsatz des Vier-Augenprinzips der Richtlinie 64/221/EWG den Verzicht auf das Widerspruchsverfahren rechtfertigt. Davon ist für die Dauer der Haft nicht auszugehen (so auch BVerwG aaO.)

Soweit der Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Nds. Innenministeriums vom 22.11.2005 vorträgt, dass das Gemeinschaftsrecht keine Ermessensentscheidung und damit auch keine Überprüfung von Zweckmäßigkeitserwägungen in einem Widerspruchsverfahren fordert, und deshalb eine umfassende Kontrolle der Ausweisungsentscheidung durch das Verwaltungsgericht möglich ist, schließt sich die erkennende Kammer dem nicht an. Wenn das deutsche Aufenthaltsrecht auf Grund der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige dazu kommt, dass bei einer Ausweisung dieses Personenkreises eine Ermessensentscheidung erfolgen muss, ist nach Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG für die zweite Instanz die gleiche Entscheidungsbreite zu fordern, auch wenn das Gemeinschaftsrecht eine Ermessensentscheidung vielleicht nicht fordert. Art 9 der Richtlinie ist als europarechtliche Verfahrensgarantie Ausprägung des sogenannten Vier-Augen-Prinzips (BVerwG aaO.). Dies und die Betonung der Unabhängigkeit der weiten Stelle von der ersten, entscheidenden, Stelle führt dazu, dass die zweite Stelle in jedem Fall die gleiche Prüfungskompetenz haben muss wie die erste Stelle. Diese Kompetenz kommt wegen § 114 VwGO den Verwaltungsgerichten nicht zu.