VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 08.02.2006 - 1 A 274/03 - asyl.net: M8190
https://www.asyl.net/rsdb/M8190
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Folgeantrag, Anhörung, Buddhisten, subjektive Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, religiös motivierte Verfolgung, Administrativhaft, Rückführungsabkommen, Zusicherung, Völkerrecht
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; vietnStGB § 81c
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet, soweit es der Klägerin um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

1. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12, 13). Mit der Vorschrift hat sich nämlich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 ein Paradigmenwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -).

2. Es stellt allerdings rechtsstaatlich schon einen Verfahrensmangel dar, wenn bei einem weitgehend neuen Vortrag im Folgeverfahren (vgl. S. 2 ff des Folgeantrages v. 9. Juli 2003 zur Lungenkrankheit und zu Besuchen im vietnamesich-buddhistischen Kulturzentrum Hamburg) eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung der Antragstellerin ergeht. Denn "das Bundesamt hat auch im Falle eines Folgeantrages den Ausländer grundsätzlich anzuhören. Im Rahmen der Amtsermittlung wird diese Pflicht zwar durch die in § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ausdrücklich normierte Mitwirkungspflicht des Folgeantragstellers relativiert. Gleichwohl kommt der Anhörung gerade auch im Folgeantragsverfahren ein besonderer Stellenwert zu, der insbesondere auch aus Gründen der effektiven Verfahrensgestaltung für die Verwirklichung des Grundrechts je nach Lage des Falls eine Anhörungspflicht begründen kann (Funke/Kaiser in GK-AsylVfG § 71 Rdnr. 61)" (so Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31).

Dieser Mangel begründet hier schon ernsthafte Zweifel an der vom Bundesamt anhörungslos getroffenen Entscheidung vom 24. Juli 2003, in der statt der Religionszugehörigkeit der Klägerin und deren Besuchen im gen. Kulturzentrum B. lediglich ihre illegale Ausreise nebst illegalem Aufenthalt in Deutschland in den Mittelpunkt der Entscheidung gerückt worden ist. Auch diese Nichtbefassung mit dem zentralen Vortrag der Klägerin führt zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung: Das in § 28 VwVfG normierte, dem Rechtsstaatsprinzip entstammende Anhörungsrecht dient der Fehlervermeidung und der Verhinderung von Willkürentscheidungen sowie letztlich der Wahrung von Grundrechten. Zu ihm gehört das Recht auf Kenntnisnahme eines Vortrags seitens der Behörde und auf Gelegenheit zur Stellungnahme. Auch Hinweis- und Informationspflichten gehören dazu. Alles das ist hier vom Bundesamt nicht beachtet worden.

3. Das Überwiegen der für eine Verfolgungsfurcht der Klägerin sprechenden Umstände ist vor allem deshalb gegeben, weil die Klägerin strenggläubige Buddhistin ist und als solche aufgrund der gewandelten Verhältnisse in Vietnam im Falle einer Rückkehr ernsthaft bedroht ist.

Da es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Organisationen bzw. Betätigungen verändert (Renner, aaO., § 28 Rdn. 10; BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen, ist es der Klägerin hier nicht verwehrt, sich auf die in den letzten Jahren feststellbaren Verschärfungen in Vietnam, vor allem auf die Verfolgung von Christen und Buddhisten dort, zu berufen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat die Klägerin ja keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann mithin nach der Gesetzeslage zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 AsylVfG.

Im Übrigen ergreift der Regelausschluss (allein) rein subjektiver Nachfluchtgründe nicht auch unveränderliche persönliche Merkmale - z.B. ethnische oder körperliche Merkmale (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 28 AsylVfG Rdn. 9). Vor allem die religiöse Überzeugung ist rechtlich ein objektiver Nachfluchttatbestand (Marx, Kommentar zum AsylVfG, 3. Aufl., § 28, Rdn. 15). Die Klägerin buddhistischen Glaubens ist also nicht mit ihrem Vortrag ausgeschlossen.

5. Verfolgungsmaßnahmen könnten der Klägerin bei dieser Lage der Dinge in hohem Maße vor allem deshalb drohen, weil sie buddhistischen Glaubens ist (vgl. Bescheid v. 24.7.2003, S. 1 und S. 2, Protokoll v. 8.2.2006, S. 2) und sich aus diesem Grunde für Religionsfreiheit engagiert.

Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Mehr als 150.000 Angehörige des Hmong-Volkes z.B. sind zum christlichen Glauben übergetreten und deshalb 2002-2004 mit großer Brutalität verfolgt worden. "Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden..." (so AA, aaO.). Ähnlich ist mit strenggläubigen Buddhisten verfahren worden.

Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Neuerdings ist zudem ein neuer "Religionserlass" in Kraft getreten, der als "Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens" verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358).

6. Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).

7. Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8.2005).

8. Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es heute nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1). Für Gläubige, denen in Vietnam offenbar eine Abkehr vom kommunistischen System unterstellt wird, gilt das in gleicher Weise.