OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 28.09.2005 - 2 R 1/05 - asyl.net: M8206
https://www.asyl.net/rsdb/M8206
Leitsatz:

Keine Verfolgungsgefahr für türkischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft in der früheren HADEP; kurdischen Volkszugehörigen steht eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei offen; posttraumatische Belastungsstörung kann ausreichend behandelt werden.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Istanbul, Sippenhaft, exilpolitische Betätigung, Mitglieder, HADEP, Kurdischer Kulturverein, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Verfolgungsgefahr für türkischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft in der früheren HADEP; kurdischen Volkszugehörigen steht eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei offen; posttraumatische Belastungsstörung kann ausreichend behandelt werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dem Kläger steht zunächst kein Anspruch auf - die sinngemäß begehrte - Verpflichtung der Beklagten auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen nach § 60 I AufenthG, der zum 1.1.2005 § 51 I AuslG ersetzt hat, zu.

Dem Kläger droht für den Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland nicht beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung.

Dies gilt zunächst für seine Einreise.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts werden zurückkehrende Asylbewerber nicht routinemäßig - das heißt ohne Vorliegen von Besonderheiten, allein aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes - bei der Wiedereinreise in die Türkei inhaftiert und asylerheblichen Misshandlungen bis hin zur Folter ausgesetzt (vgl. zu Einreisekontrollen etwa AA., Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.5.2004 und vom 3.5.2005 – 508-516.80/3 TUR -; Kaya, Stellungnahme an VG Sigmaringen vom 10.11.2004). Kurdischen Volkszugehörigen türkischer Staatsangehörigkeit, bei denen festzustellen ist, dass sie landesweit gesucht werden oder sich exilpolitisch exponiert haben, droht jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteile vom 7.7.2005 - 2 R 3/04 -, vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 - und vom 18.2.1999 - 9 R 21/97 - m.z.N.; Beschlüsse vom 29.4.2003 - 2 Q 116/03 - und vom 10.4.2003 - 2 Q 110/03) bei ihrer Rückkehr in die Türkei politische asylrelevante Verfolgung in Gestalt von Misshandlung in Polizeigewahrsam.

Zunächst rechtfertigt der Hinweis des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf seine Mitgliedschaft im Kurdischen Kulturverein nicht die Annahme, er habe sich in Deutschland exilpolitisch exponiert. Auch bietet der Klägervortrag - wie dargelegt - keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass nach ihm landesweit gesucht wird.

Der Kläger ist auch nicht wegen seines in Deutschland lebenden abschiebungsschutzberechtigten Bruders einer beachtlich wahrscheinlichen Foltergefahr bei seiner Einreise in die Türkei ausgesetzt. Zwar ist anzunehmen, dass bei der Einreisekontrolle auf EDV zurückgegriffen werden kann und dass eine familiäre Zuordnung dieses Bruders und des Klägers zu einer Familie bei der Einreise ohne weiteres bei Kenntnis des Namens der Eltern und des Geburtsortes möglich ist; dies setzte jedoch voraus, dass Ersterer in das EDV-gestützte Fahndungsregister eingetragen ist und sein Namen auch den Dienststellen an den Grenzübergängen mitgeteilt wurde. Dies ist dann der Fall, wenn er per Haft- und Festnahmebefehl gesucht wird1 (vgl. Kaya, Stellungnahme an VG Sigmaringen - A 8 10281/03 - vom 10.11.2004). Hierfür bietet der Vortrag des Klägers indes keinerlei Anhaltspunkte und dies ist auch ansonsten nicht konkret ersichtlich. Für den Fall jedoch, dass seine Verwandtschaft mit seinem Bruder bei seiner Einreise erkennbar würde, könnte davon ausgegangen werden, dass der Kläger einer - möglicherweise auch strengen - Befragung diesen betreffend, nicht aber einer Folter (vgl. Oberdiek, Stellungnahme an VG Berlin - VG 36 X 553.95 - vom 14.1.2003 - TUR 24754001 -, der von einer Folter-Gefährdung eines Vorbelasteten nicht nur wegen eigener Aktivitäten, sondern auch wegen dessen Kenntnisse über andauernde Aktivitäten anderer ausgeht, was vorliegend schon vom Ansatzpunkt her zu verneinen ist) unterzogen wird.

Dies gilt auch hinsichtlich der vorgetragenen Aktivitäten für die HADEP. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die einfache Mitgliedschaft in der - ehemaligen, seit 2003 verbotenen - HADEP nach den Erkenntnissen des Senats nicht zu Repressionsmaßnahmen führt (vgl. AA, Auskunft an VG Göttingen (1 A 266/03) vom 6.2.2004), solange nicht der Verdacht einer PKK-Unterstützung hinzutritt, wofür bei dem Kläger keine Anhaltspunkte bestehen.

Der türkisch sprechende Kläger hat, wenn er eine Rückkehr nach M , wo seine Eltern zumindest zeitweise noch leben (vgl. Sitzungsniderschrift vom 17.6.2004 (Bl. 77 Gerichtsakte), für sich ausschließt, die Möglichkeit, auf eine inländische Fluchtalternative in einem anderen Teil der Türkei, z.B. Istanbul zurückzugreifen, ohne dass dies für ihn - wie ausgeführt - im Hinblick auf den aktenkundigen Freispruch durch das Staatssicherheitsgericht, seinen Bruder oder seine Betätigung für die HADEP unzumutbar wäre.

Kurden unterliegen nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes (so etwa Urteile des langjährig für das Herkunftsland Türkei zuständigen 9.Senates vom 8.11.1995 - 9 R 70/93 -, vom 19.2.1999 - 9 R 21/97 -, vom 10.11.1999 - 9 R 28/98 - und vom 29.3.2000 - 9 R 10/98 - sowie Beschlüsse vom 11.1.1999 - 9 Q 275/98 -, vom 5.3.1999 - 9 Q 150/98 -, vom 1.3.1999 - 9 Q 41/99 -, vom 2.2.2000 - 9 Q 22/00 -, vom 28.2.2001 - 9 Q 24/01 - und vom 15.4.2002 - 9 Q 122/01 - m.w.N.; dieser Rechtsprechung hat sich der 2. Senat angeschlossen: etwa Urteil vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 -, Beschluss vom 15.7.2003 - 2 Q 46/03) zwar möglicherweise in den - ehemaligen - Notstandsprovinzen einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung, ihnen steht jedoch, wenn sie politisch nicht auffällig geworden sind, im Westen der Türkei, insbesondere in den Großstädten dieses Landesteils, eine ihre Anerkennung als Asyl- und Abschiebungsschutzberechtigte unter diesem Aspekt ausschließende Fluchtalternative offen.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - offensichtlich hilfsweise begehrte - Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 II ff AufenthG, dessen Regelungen dem bis 31.12.2004 geltenden § 53 AuslG insgesamt betrachtet entsprechen, und insbesondere mit Blick auf die vorgetragenen und durch ärztliche Atteste belegten Krankheiten keinen Anspruch gemäß dem allein in Betracht kommenden § 60 VII AufenthG - zuvor § 53 VI AuslG -.

Eine medizinische Versorgung des Klägers ist in der Türkei möglich. Psychisch kranke Menschen können in allen Krankenhäusern behandelt werden, die über eine Abteilung für Psychiatrie verfügen. Allerdings ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter und komplementärer Versorgungsangebote. Psychiatrische Kliniken des Gesundheitsministeriums und Einrichtungen der Sozialversicherungsanstalt SSK verfügen - unter Einbeziehung der psychiatrischen Stationen in allgemeinen Krankenhäusern aller öffentlichen türkischen Institutionen - über mehr als 10.000 Betten für psychisch Kranke. Die Verweildauer der Patienten ist aufgrund der verfügbaren Kapazitäten (Psychiater/ Betten) in der Regel auf drei Monate beschränkt. Weiterführende Therapien können aus fachlichen und finanziellen Gründen nicht immer angeboten werden. Für die Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung - PTBS - werden die international anerkannten Klassifikationssysteme angewandt. Zu den Behandlungskonzepten zählen wie in Westeuropa üblich u.a. Psychotherapie mit Relaxationtraining, Atemtraining, Förderung des positiven Denkens und Selbstgespräche, kognitive Therapie, Spieltherapie sowie Medikationen wie Antidepressiva und Benzodiazepine. In welchem Umfang für die Betroffenen auch tatsächlich eine therapeutische Weiterbehandlung und eine adäquate Betreuung einer PTBS möglich sind, kann oft nur im Einzelfall geklärt werden. Die Versorgung psychisch kranker Menschen ist dagegen im Privatsektor vergleichsweise günstig, so wurden in Istanbul in den letzten Jahren mehrere moderne psychiatrische Krankenhäuser mit differenziertem Behandlungsangebot und ambulanter Betreuungsmöglichkeit eingerichtet. Eine Behandlung bei einem der vielen niedergelassenen Ärzte oder der umfassend ausgebildeten Psychologen, Psychiater, psychotherapeutisch tätigen Ärzten oder Neurologen ist aber nur als Privatpatient möglich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.5.2004 - 508-516.80/3 TUR -, Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei"). Bei der Behandlung psychisch kranker Menschen ist ein ständig steigender Standard festzustellen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 3.5.2005 - 508-516.80/3 TUR).