VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 10.03.2006 - A 1 K 10885/03 - asyl.net: M8216
https://www.asyl.net/rsdb/M8216
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Kind ohne intakten Familienverband in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo).

 

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, alleinstehende Minderjährige, alleinerziehende Frauen, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, Malaria, medizinische Versorgung, Kinshasa
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Kind ohne intakten Familienverband in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Auf den Hilfsantrag hin ist jedoch Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 13.05.2003 aufzuheben und die Beklagte - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.

Die obergerichtlichen Entscheidungen, denen das erkennende Gericht folgt, verneinen (mit Ausnahme Aids- oder Krebskranker, unbegleitet rückgeführter Minderjähriger sowie alleinstehender Mütter mit Kleinkindern ohne Familienrückhalt) für einen im wesentlichen gesunden Rückkehrer, der auch hinsichtlich seines Alters nicht die Besonderheit aufweist, noch (Klein-) Kind oder über 50 Jahre alt zu sein, eine - hier wegen der Allgemeinheit der Gefahr erforderliche (vgl. grundlegend: BVerwG, Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531; Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 5/01 -, InfAuslR 2002, 52) - extreme Leibes- und Lebensgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das gilt selbst unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Verhältnisse in Kinshasa - nur dorthin bestehen Rückkehrverbindungen -, selbst wenn sie in humanitärer Sicht als katastrophal bezeichnet werden können. Unerheblich ist ferner, ob bei Rückkehr noch Familienanschluss besteht (vgl. allerdings dazu, dass die Nichtexistenz eines [Groß-] Familienverbandes in hohem Maße ungewöhnlich wäre: AA, Auskunft 16.06.2002 an VG München). Schließlich ist auch die mehrjährige Dauer des Auslandsaufenthalts bzw. der Abwesenheit vom Heimatland nicht als gefahrerhöhend anzusehen (vgl. zum Vorstehenden: OVG Sachsen, Urt. v. 9.5.2005 - A 5 B 477/04 [in der BRD geborenes und aufgewachsenes, 6-jähriges Kleinkind, vorausgesetzt Trinkwasserversorgung ist gewährleistet]; Urt. v. 26.11.2003 - A 5 B 1022/02; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.07.2003 - A 6 S 971/01 [Abwesenheit des Klägers von der DR Kongo: 11 Jahre und 2 Monate] und Urt. v. 13.11.2002 - A 6 S 967/01 [Abwesenheit: 9 Jahre und 11 Monate]; OVG Schlesw.-Holst., Beschl. v. 05.03.2003 - 4 LB 124/02 - und Beschl. v. 10.02.2003 - 4 L 169/02 - [Abwesenheit: 9 Jahre und 3 Monate]; OVG Saarlouis, Beschl. v. 28.03.2003 - 3 Q 10/02 - und Urt. v. 14.01.2002 - 3 R 1/01 - [Abwesenheit: 9 Jahre und 7 Monate]; OVG Bremen, Beschl. v. 28.11.2002 - OVG 1 A 375/02.A - und Beschl. v. 12.11.2002 - OVG 1 A 62/02.A -; OVG Nordrh.-Westf., Urt. v. 18.04.2002 - 4 A 3113/95.A - [Abwesenheit: 9 Jahre und 6 Monate] sowie schließlich OVG Hamburg, Urt. v. 02.11.2001 - 1 Bf 242/98.A - [Abwesenheit: 8 Jahre und 1 Monat]; vgl. zur Integration von Rückkehrern auch die Bemühungen der Menschenrechtsorganisation L.I.C.A.P.-Congo [Erkenntnisse des IZ Asyl und Migration des BAMF: Rückführungen und Rückkehrfragen, September 2005). Die in allen diesen Entscheidungen letztlich für maßgebend erachtete Frage, ob unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände für den Rückkehrer eine zugespitzte Gefahrenlage aufgrund Kumulation ungünstiger Rahmenbedingungen existiert, ist für die 7-jährige, in Deutschland geborene Klägerin zur Überzeugung des Gerichts jedoch zu bejahen.

Der Vater der Klägerin ist nämlich seit über 10 Jahren als Asylberechtigter anerkannt; ihre angolanische Mutter darf aufgrund Feststellung des Bundesamtes vom 07.04.2000 nicht nach Angola abgeschoben werden.

Zudem haben weder der aus dem Osten Kongos stammende Vater noch die angolanische Mutter der Klägerin in Kinshasa Verwandte, die dann unterstützend helfen könnten. Das Überleben der 7-jährigen Klägerin wäre in dieser Situation davon abhängig, dass ihre angolanische Mutter - als Fremde in Kinshasa - das Überleben einer Familie mit mehreren kleinen Kindern sichert. Die allein stehende Mutter müsste sich, da sie über keinen familiären Rückhalt verfügt, ständig um ihre kleinen Kinder kümmern und könnte deshalb nicht so viel erwirtschaften, dass ein Leben außerhalb der Slumgebiete Kinshasas gesichert wäre. Ein intakter Familienverband ist insofern Mindestvoraussetzung für ein längeres Überleben von Kleinkindern bei den in Kinshasa herrschenden desolaten wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Verhältnissen (vgl. OVG Sachsen, Urt. vom 9.5.2005, a.a.O.). Da ein intakter Familienverband im vorliegenden Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit auseinander brechen würde, wäre es der dann allein auf sich gestellten Mutter auch mit Hilfe der wenigen in Kinshasa vorhandenen humanitären Organisationen nicht möglich, die Ernährung ihrer Kleinkinder ausreichend zu sichern, was wiederum Voraussetzung dafür ist, dass ein kleines Kind wie die Klägerin ausreichend kräftig ist, um immer wieder kehrende Malariainfektionen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu überleben (vgl. OVG Sachsen, Urt. vom 9.5.2005, a.a.O.; OVG Saarland, Beschl. vom 3.9.2004, 3 Q 17/03; vom 10.11.2004, 3 Q 32/04; a.A. lediglich OVG NRW, Besch. vom 3.2.2006, 4 A 4227/04.A).