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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.04.2006 - 2 M 82/06 - asyl.net: M8222
https://www.asyl.net/rsdb/M8222
Leitsatz:

Einem untergetauchtem Ausländer fehlt nur dann das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung, wenn er trotz Aufforderung des Gerichts keine ladungsfähige Anschrift offenbart; kein genereller Abschiebungsschutz für den Vater eines ungeborenen deutschen Kindes.

 

Schlagwörter: Erledigung der Hauptsache, Abschiebung, Abschiebungshindernis, Ausländerbehörde, Rechtsschutzbedürfnis, Untertauchen, Abschiebungstermin, Schutz von Ehe und Familie, deutsche Kinder, Schwangerschaft, Visumsverfahren, Wirkungen der Abschiebung, Befristung
Normen: VwGO § 146 Abs. 4; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 11 Abs. 1
Auszüge:

Einem untergetauchtem Ausländer fehlt nur dann das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung, wenn er trotz Aufforderung des Gerichts keine ladungsfähige Anschrift offenbart; kein genereller Abschiebungsschutz für den Vater eines ungeborenen deutschen Kindes.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Da der Erledigungsfeststellungsantrag keinen Erfolg hat, ist davon auszugehen, dass der Antragsteller im Beschwerdeverfahren seinen im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Sachantrag weiterverfolgt (vgl. Clausing, a. a. O., § 161 RdNr. 36, m. w. Nachw.), der darauf gerichtet ist, dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, den Antragsteller abzuschieben.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Antrag allerdings zulässig. Dem Antragsteller fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil er bereits seit der Ankündigung der für den 13.11.2005 angekündigten Abschiebung unbekannten Aufenthalts ist.

Vom Wegfall eines (ursprünglich gegebenen) Rechtsschutzbedürfnisses kann ein Gericht im Einzelfall ausgehen, wenn das Verhalten eines Rechtsschutz suchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht (mehr) gelegen ist. Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn der Ausländer "untergetaucht" ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.08.1996 - 9 C 169.95 -, NVwZ 1997, 1136; OVG NW. Beschl. v. 30.07.2003 - 17 B 1070/03 -, Juris, m. w. Nachw; BayVGH, Beschl. v. 19.11.2001 - 10 ZE 01.2757 -, BayVBl 2002, 532; ThürOVG, Beschl. v. 03.07.1999 - 3 ZEO 1154/98 -, InfAuslR 2000, 19). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 04.12.2003 - 2 M 547/03 - Juris) muss jedoch hinzukommen, dass der Ausländer trotz Aufforderung des Gerichts seinen wahren Aufenthaltsort (ladungsfähige Anschrift) nicht offenbart. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Ausländer erst nach dem "Untertauchen" um Rechtsschutz nachsucht. Einer - möglichen - Abschiebung kann der Ausländer wirksam begegnen, indem er dem Gericht gegenüber seinen Aufenthalt angibt; daraufhin ist das Verwaltungsgericht gezwungen, über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in der Sache zu entscheiden und zuvor erforderlichenfalls den Aufenthalt des Ausländers bis zu einer solchen Sachentscheidung vorläufig zu sichern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.12.1995 - 2 BvR 2552/95 - DVBl 1996, 611). Tut er dies nicht, gibt er zu erkennen, dass er sich einem gerichtlichen Verfahren nicht zu stellen beabsichtigt und an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht (mehr) interessiert ist.

Auch der Umstand, dass noch kein neuer Abschiebetermin feststeht, führt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 26.07.2005 - 2 M 110/05 -; Beschl. v. 07.09.2004 - 2 M 445/04 -) nicht dazu, dass das Rechtsschutzinteresse entfällt; denn muss der Ausländer nach den dem Gericht bekannten Tatsachen befürchten, dass gegen ihn Abschiebungsmaßnahmen eingeleitet werden, so kann ihm nicht zugemutet werden, ganz konkret abzuwarten, bis Abschiebungsmaßnahmen tatsächlich erkennbar werden, und dies dann dem Gericht gegenüber glaubhaft zu machen.

Die Beschwerde ist aber unbegründet. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen nicht die Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Antragsteller sich hinsichtlich der im April 2006 zu erwartenden Geburt seines Kindes mit seiner (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Partnerin nicht auf "Vorwirkungen" des Art. 6 GG berufen kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 11.04.2002 - 2 M 121/02 -; vgl. auch SaarlOVG, Beschl. v. 1. Februar 1993 - 6 F 14/93 - Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AuslG, RdNr. 22), bestehen die Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erst ab der Geburt des Kindes.

Daran ist - jedenfalls im Grundsatz - festzuhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat auch in jüngeren Entscheidungen (vgl. Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl 2006, 247) die Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG stets daran geknüpft, dass eine (verantwortungsvoll) gelebte Eltern-Kind-Gemeinschaft vorhanden ist, die durch Betreuungsbeiträge der Eltern sowie eine geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt ist.

Ob - in Ansehung des im Verfassungsrecht verankerten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - eine andere Beurteilung dann geboten ist, wenn eine Geburt nahe bevorsteht und (daher) mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Ausländer durch eine Abschiebung über einen nicht unbedeutenden Zeitraum hinweg daran gehindert sein wird, sein (künftiges) Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wahrzunehmen und die von ihm (ernsthaft) beabsichtigte Lebensgemeinschaft mit seinem Kind herzustellen (in diesem Sinne: SächsOVG, Beschl. v. 26.01.2006 - 3 BS 274/05 - Juris; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, II-§ 60a RdNr. 97, m. w. Nachw.), bedarf hier ebenso wenig einer Erörterung wie die Frage, ob im Fall einer Gefahrenlage für das ungeborene Kind oder die Mutter (Risikoschwangerschaft) der Grundrechtsschutz des Art 2 Abs.2 Satz 1 GG bzw. des Art. 6 Abs. 4 GG eingreift. Zu dem nach der Rechtsprechung des Senats maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung war die Geburt des Kindes des Antragstellers erst in vier Monaten zu erwarten, so dass es dem Antragsteller zuzumuten war, zunächst auszureisen und von seinem Heimatland aus im Visumsverfahren einen Aufenthaltstitel zum Zwecke der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft zu erwirken. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch darauf hingewiesen, dass der Antragsteller dem im Falle einer Abschiebung eintretenden Einreiseverbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit einem Antrag auf Befristung dieser Wirkung begegnen kann, über den im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG zu entscheiden ist.