OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.04.2006 - 20 A 5161/04.A - asyl.net: M8225
https://www.asyl.net/rsdb/M8225
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Kabul, Abschiebungsstopp, Erlasslage, IMK-Beschluss, Versorgungslage, Obdachlose, medizinische Versorgung, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, RANA-Programm, IOM, Hindus, Sikhs, alleinstehende Frauen, Kommunisten, Taliban, Diabetes mellitus, Krankheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Berufung ist begründet; die Klage ist auch hinsichtlich des allein noch anhängigen Begehrens festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG - diese Vorschrift ist am 1. Januar 2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG getreten, § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in der Fassung des Art. 3 Nr. 20 sowie Art 15 Abs. 3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 1950) - vorliegen, unbegründet.

Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - auch insoweit der Normstruktur des § 53 Abs. 6 AuslG entsprechend - nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr ausnahmsweise dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" (vgl. (wiederum zu § 53 Abs. 6 AuslG) BVerwG, Urteile vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4.98 BVerwGE 108, 77 sowie vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, a.a.O. - und zur Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes im Wege der Normauslegung BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 1994 - 2 BvL 81 und 82/92 -, NVwZ 1995, 781).

Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und die - freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende - Unmittelbarkeit eines Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, BVerwGE 115, 1 und Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.98 -, NVwZ 1999, 668).

Sie scheidet allerdings von vornherein aus, wenn gleichwertiger Schutz vor Abschiebung anderweitig durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass vermittelt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420 -, und - die Rechtsprechung zur extremen Gefahrenlage zusammenfassend - vom 10. Oktober 2004 - 1 C 15.03 -, NVwZ 2005, 462).

Diese Ausnahme greift vorliegend nicht ein. Insbesondere bietet der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 24. Juni 2005 keine (vorübergehende) Sicherheit, die der Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG gleichkommt. Denn die dort vorgestellte Abfolge von Abschiebungen bestimmter Personengruppen kann nicht mehr als die Erwartung tragen, noch eine gewisse Zeit in Deutschland verbleiben zu können. Andere in diesem Zusammenhang in Betracht kommende Entscheidungen sind dem Gericht nicht bekannt und sind auch von der Beklagten nicht aufgezeigt worden.

Eine den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unmittelbar genügende individuelle, also gerade in ihren persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht den Klägern bezogen auf die Verhältnisse in Kabul nicht. Diese sind maßgeblich in den Blick zu nehmen, weil sie den Bereich betreffen, der im Fall der Rückkehr oder Abschiebung am ehesten zu erreichen ist.

Im Anschluss an die Rechtsprechung für die Zeit des Taliban-Regimes, für die eine gebotene Schutzgewährung gemäß § 53 Abs. 6 AuslG ebenfalls grundsätzlich veneint worden war (vgl. Urteil vom 16. August 2001 - 20 A 3011/97.A -) hat der Senat, gestützt auf Erkenntnismaterial, das auch in das vorliegende Verfahren eingeführt worden ist, auf eine trotz beträchtlicher Schwierigkeiten festzustellende Verbesserung der Lage zumindest in Kabul hingewiesen sowie auf die internationale humanitäre Hilfe, die nicht zuletzt wegen der Anwesenheit von Truppen der ISAF auch durch militärische Auseinandersetzungen, terroristische Anschläge und kriminelle Übergriffe nicht gefährdet sei, und sodann ausgeführt: (...)

Es ist nicht festzustellen, dass die Einschätzung des Senats insgesamt oder für bestimmte bisher schon gesondert betrachtete Gruppen der Korrektur bedarf, weil eine Veränderung zum Schlechteren, die nunmehr Schutz im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfordert, eingetreten ist.

Eine solche Zuspitzung der Situation, dass das verfassungsrechtliche Schutzgebot für extreme Gefahrenlagen eingreift, ergibt sich aus der Vielzahl der Stellungnahmen und Darstellungen, die in das Verfahren eingeführt worden sind und die zusammenfassend ein aktuelles Bild der Lage in Afghanistan vermitteln, nicht.

Allgemein ist festzuhalten, dass in Kabul wirtschaftliche Entwicklung und Etablierung günstiger Lebensumstände zusammentreffen mit größter Armut und schlimmen Verhältnissen, die bis zu einer schon lebensbedrohlichen Existenz in Slums reichen. Weiterhin gibt es einerseits die in Kabul verbliebenen oder in der Zeit der Mujaheddin und der Taliban nach Kabul Gelangten, die sich zum Teil auf Kosten derer bereichert haben, die aus der Stadt und dem Land geflohen waren, andererseits die Rückkehrer, wobei zu unterscheiden ist zwischen denen, die in großen Strömen freiwillig oder faktisch gezwungen aus Flüchtlingslagern in Pakistan und Iran nach Kabul gelangen, obwohl sie weithin nicht von dort, zum Teil nicht einmal aus städtischen Gebieten stammen, und denen, die - etwa wegen ihres allgemeinen wirtschaftlichen oder sozialen Status schon vor dem Verlassen Afghanistans - in entferntere Länder, sei es Indien, sei es Europa, fliehen konnten und von dort zurückkehren. Schließlich liegt auf der Hand, dass in einem städtischen Siedlungsraum mit mehreren Millionen Menschen in einer Zeit des Wiederaufbaus grundlegender Strukturen - beispielsweise für die Sicherheitskräfte - nicht überall ein gleiches und zufriedenstellendes Mindestmaß an Versorgung und Ordnung zu finden ist. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass in der derzeitigen Phase der staatlichen Entwicklung eine Vielzahl divergierender Richtungen ideologischer, religiöser oder politischer Art sowie auf Eigenständigkeit pochender Machthaber mit jeweils eigenem ethnischen und regionalen Hintergrund eingebunden werden muss, was die Herausbildung und Durchsetzung klarer Verhältnisse und Strukturen erschwert.

Letztlich bedarf all das aber keiner isolierten abschließenden Festlegung, weil das Gericht insgesamt nicht zu der Überzeugung gelangt ist, dass Rückkehrer aus Deutschland - vorbehaltlich besonderer Umstände, auf die im Weiteren noch einzugehen ist - zwangsläufig und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Situationen geraten werden, die den in den Auskünften geschilderten konkreten Fällen von Zuspitzungen gleichkommen. Eine eindeutige Aussage in dieser Hinsicht macht David (vom 27.03.2006), der anführt, dass Rückkehrern aus Ländern der EU von ihrer Ankunft auf dem Flughafen in Kabul an Hilfestellung geboten wird, die erste gesundheitliche Absicherung und Unterbringung nebst Verpflegung gewährleistet, und an die sich auch Unterstützung beim Aufbau einer eigenen Existenzgrundlage anschließen kann. Es handelt sich derzeit um Leistungen aus dem RANA-Programm mit Mitteln der EU, die von der IOM - International Organization for Migration - erbracht werden. Diese Hilfe steht allen Rückkehrern aus der EU zur Verfügung, unabhängig davon, ob sie freiwillig ausreisen, abgeschoben werden oder im Rahmen einer Vereinbarung zurückgelangen, und führt zu einem durchgreifenden Unterschied im Vergleich zu den Rückkehrern aus Pakistan und Iran, die in - den Rückkehrern aus Europa unter Umständen nicht zugängliche - Flüchtlingslager gelangen, in denen die Lage und das Überleben schwierig ist. David stützt seine Aussagen auf eine bereits längere Tätigkeit bei IOM in Kabul und die Begleitung und Beobachtung der ersten Zeit nach der Rückkehr bei zahlreichen Personen, etwa 30 bis 40 monatlich aus Großbritannien und insgesamt schon etwa 120 aus Deutschland. Als Indiz für offensichtlich bestehende verschiedene Möglichkeiten des Wiedereinfügens in die Verhältnisse in Afghanistan, insbesondere Kabul, ist es anzusehen, dass die Unterkunftsangebote, die auf zwei Wochen angelegt sind, regelmäßig in zeitlicher Hinsicht nicht voll genutzt werden und das Heim nach den Angaben von David auch noch nicht voll belegt war. Rückkehrer müssen also andere Wege oder Kontakte zu in Kabul Etablierten finden, von denen sie sich auch gegebenenfalls erforderliche Hilfe versprechen. Zur Unterstützung bei der Schaffung einer eigenen Lebensgrundlage gibt es die Möglichkeit einer finanziellen Förderung oder Unterstützung im Bemühen um eine Arbeitsstelle, was bei Rückkehrern aus Deutschland im Hinblick auf das Interesse ausländischer Unternehmen vor allem wegen Sprachkenntnissen durchaus erfolgreich sein kann (dazu auch Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006). Die Darstellung von David überzeugt jedenfalls in den Schilderungen für die erste Zeit nach der Rückkehr aus Europa.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Auskunftslage nicht den Schluss trägt, alle Rückkehrer aus Deutschland, die nicht - z.T. sogar unter Missachtung der Beibringungslast nicht nachweisbar - in einem funktionierenden und z.T. in einem zu engen Sinne verstandenen - Familienverband Aufnahme finden, gerieten in Afghanistan in eine völlig aussichtslose Lage. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass eine solche Situation bei Hinzukommen besonderer Umstände eintritt. Dazu bedürfen verschiedene Anknüpfungspunkte der gesonderten Betrachtung.

Eine im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG relevante Zuspitzung in Anknüpfung an Volks- oder Religionszugehörigkeit ist nicht festzustellen.

Wie sich die Verfassungswirklichkeit entwickeln und festigen wird, ist derzeit noch offen und schwer vorherzusehen, wie nicht zuletzt die durch die allgemeine Presse jüngst bekannt gewordenen Vorgänge um einen im Ausland zum Christentum übergetretenen afghanischen Moslem belegt haben. Für eine systernatische Verfolgung der Angehörigen nichtislamischer Religionen sind gegenwärtig allerdings keine Ansätze ersichtlich. Festzustellen sind vielfältige Benachteiligungen, insbesondere von privater Seite. Dass diese Beeinträchtigungen allgemein schon bis an den Kern des Schutzbereichs reichen, den § 60 Abs. 7 AufenthG abdecken soll und muss, ergibt sich jedoch nicht.

Das gilt auch für Hindus und Sikhs. Wenngleich von umfassenden und rundum abgesicherten Erkenntnissen nicht ausgegangen werden kann, so erlaubt die Auskunftslage doch den Schluss, dass sich die allgemeine Lage dieser Gruppe im Hinblick auf die Frage nach einer extremen Gefahr im oben bezeichneten Sinne nicht entscheidend von derjenigen anderer Rückkehrer abhebt. Unklarheiten verbleiben nach den Stellungnahmen zwar schon im Hinblick auf die derzeitige Größe dieser Gruppe.

Zusammenfassend betrachtet ist dem speziell auf die Berichterstattung über die Lage der Hindus und Sikhs in Kabul ausgerichteten Material (Danesch vom 23.01.2006, Merzadah von 01.2006) hinsichtlich der Aspekte Sicherheit und Versorgung mit dem Existenznotwendigen nichts Tragfähiges zu entnehmen, das diese Gruppe nachhaltig von anderen abhebt.

Eine im vorliegenden Zusammenhang relevante Zuspitzung der Lage hinsichtlich der Existenzbedingungen ist - vorbehaltlich besonderer Umstände - für Frauen konkret zu befürchten, die ohne männliche Begleitung nach Afghanistan zurückkehren müssen und nicht in intakten Strukturen Aufnahme finden. Denn alleinstehende Frauen sind in hohem Maße schon dann gefährdet, wenn sie die erforderlichen Schritte zur Beschaffung des Lebensnotwendigen unternehmen. So ist in den Auskünften weithin einheitlich festgehalten, dass alleinstehende Frauen nicht akzeptiert sowie als "Freiwild" betrachtet werden, vielfältigen Benachteiligungen und Übergriffen ausgesetzt sind und auch bei Unterkunft in einer der von Nichtregierungsorganisationen speziell für Frauen geschaffenen Unterkünfte letztlich als moralisch verwerflich angesehen und behandelt werden (PRO ASYL vom 1.06.2005, AA vom 29.11.2005, Danesch vom 23.01.2006). Es ist ohne Weiteres plausibel, dass unter solchen Bedingungen ein Leben ohne nachhaltige Beeinträchtigungen der Versorgung mit dem Nötigsten oder mit Ausschluss jeglicher Bewegungsfreiheit oder mit der konkreten Gefahr, sich körperlichen Übergriffen auszusetzen, nicht möglich ist.

Von einer relevanten Zuspitzung der Lage ist ferner bei Erkrankungen auszugehen, die eine die Grundelemente in Behandlung und Medikamenten übersteigende Versorgung erfordern. Dass die medizinischen Möglichkeiten in Afghanistan entsprechend den Verhältnissen eines der ärmsten Länder der Welt und nach jahrelangen Kämpfen höchst unzureichend sind, wird von keiner der Auskunftsstellen oder -personen bezweifelt. EURASIL (Anlage 11 Annex 1 zur Übermittlung des BMJ vom 5.12.2005) bezeichnet den Mangel an möglicher medizinischer Behandlung demgemäß auch schon als ein in Betracht kommendes Rückkehrhindernis. Standardmittel und eine gewisse Grundversorgung sind zwar vorhanden, wobei aber offen bleibt, inwieweit die prinzipielle Unentgeltlichkeit nicht durch erforderliche Bestechung zunichte gemacht wird (Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006, Danesch vom 23.01.2006 und an OVG Bautzen vom 24.07.2004). Bei unerlässlichen Behandlungen komplizierterer Art sowie bei erforderlicher kontinuierlicher und gleichmäßiger Versorgung mit bestimmten qualifizierten Medikamenten wird - falls ein Ausbleiben alsbald zu schwerwiegenden Folgen führt - regelmäßig die hinreichende Wahrscheinlichkeit für Beeinträchtigungen gegeben sein, vor denen nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu schützen ist. Vergleichbar kann sich im Einzelfall auch die Situation mittelloser alter, schwacher oder behinderter Personen darstellen, wenn es ihnen aufgrund der Verfassung nicht mehr möglich ist, die notwendigen Schritte zur Grundversorgung zu unternehmen, und festzustellen ist, dass hilfsfähige und -bereite Personen in Afghanistan nicht zur Verfügung stehen (vgl. schon Urteil des Senats vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -).

Weitere Zuspitzungen können sich noch aus Umständen ergeben, die ihrer Art nach schon andere, regelmäßig vorrangige Schutzgründe - Asyl oder § 60 Abs. 1 bis 3 und 5 AufenthG - tragen könnten, dort aber aus welchen Gründen außer mangelnder Glaubhaftigkeit auch immer nicht zum Erfolg geführt haben. Insofern ist, soweit dabei von einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesprochen werden kann, vor allem an Angehörige früherer Regime etwa Kommunisten oder Taliban zu denken (vgl. dazu Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, AA vom 29.11.2005, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006). Allerdings dürfte es hier nur ganz ausnahmsweise zu einer Konstellation kommen, die nach Wahrscheinlichkeit und Dringlichkeit der Gefahr den hier betrachteten Anforderungen für einen unerlässlichen Abschiebungsschutz genügt.