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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 16.02.2006 - C-502/04 - asyl.net: M8228
https://www.asyl.net/rsdb/M8228
Leitsatz:

Art. 7 Abs. 2 ARB Nr. 1/80 gilt auch für volljährige Kinder eines türkischen Arbeitnehmers; Assoziationsberechtigte nach Art. 7 Abs. 2 ARB Nr. 1/80 können ihr Aufenthaltsrecht nur durch Verlassen des Landes für einen erheblichen Zeitraum und ohne berechtigten Grund oder nach Art. 14 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 verlieren.

 

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Familienangehörige, Verlust, Volljährige
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

Art. 7 Abs. 2 ARB Nr. 1/80 gilt auch für volljährige Kinder eines türkischen Arbeitnehmers; Assoziationsberechtigte nach Art. 7 Abs. 2 ARB Nr. 1/80 können ihr Aufenthaltsrecht nur durch Verlassen des Landes für einen erheblichen Zeitraum und ohne berechtigten Grund oder nach Art. 14 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 verlieren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter

welchen Umständen ein türkischer Staatsangehöriger wie Herr Torun, der im Aufnahmemitgliedstaat nach Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht verlieren kann.

Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst daran zu erinnern, dass nach dem System des Beschlusses Nr. 1/80 dessen Kapitel II Abschnitt 1, der u. a. die Artikel 6, 7 und 14 enthält, insbesondere die Rechte der türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat auf dem Gebiet der Beschäftigung regelt. Dabei wird zwischen der Situation türkischer Arbeitnehmer, die im betreffenden Mitgliedstaat eine bestimmte Zeit ordnungsgemäß beschäftigt waren (Artikel 6), und der Situation der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats anwesenden Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer (Artikel 7) unterschieden.

Hinsichtlich der zweiten Personengruppe unterscheidet der Beschluss Nr. 1/80 zwischen den Familienangehörigen, die die Genehmigung erhalten haben, zum Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen, und die dort für eine gewisse Zeit ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz gehabt haben (Artikel 7 Absatz 1), und den Kindern eines solchen Arbeitnehmers, die im betreffenden Mitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen haben (Artikel 7 Absatz 2) (vgl. Urteil vom 19. November 1998 in der Rechtssache C-210/97, Akman, Slg. 1998, I-7519, Randnr. 21).

Was im Einzelnen Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 angeht, auf den sich die erste Frage des vorlegenden Gerichts bezieht, so ist erstens festzustellen, dass diese Bestimmung, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ebenso wie Artikel 6 Absatz 1 (vgl. Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnr. 26) und Artikel 7 Absatz 1 (vgl. Urteil vom 17. April 1997 in der Rechtssache C-351/95, Kadiman, Slg. 1997, I-2133, Randnr. 28) in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat, so dass sich die türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllen, unmittelbar auf die ihnen dadurch verliehenen Rechte berufen können (Urteile vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-355/93, Eroglu, Slg. 1994, I-5113, Randnr. 17, und Akman, Randnr. 23).

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Rechte, die Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraussetzen, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sonst jede Wirkung genommen würde (Urteile Eroglu, Randnrn. 20 und 23, und Akman, Randnr. 24).

Drittens ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Rechte, die Artikel 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllen, zuerkennt, nur nach Maßgabe des Artikels 14 Absatz 1 des Beschlusses beschränkt werden können, d. h. aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder aufgrund des Umstands, dass der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (Urteile vom 16. März 2000 in der Rechtssache C-329/97, Ergat, Slg. 2000, I-1487, Randnrn. 45, 46 und 48, vom 11. November 2004 in der Rechtssache C-467/02, Cetinkaya, Slg. 2004, I-10895, Randnrn. 36 und 38, sowie vom 7. Juli 2005 in der Rechtssache C-373/03, Aydinli, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 27).

Viertens ist festzustellen, dass die in Artikel 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 aufgestellten Voraussetzungen strenger sind als die, die nach Absatz 2 des Artikels nur zugunsten der Kinder eines türkischen Arbeitnehmers gelten, die im Aufnahmemitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen haben (Urteil Akman, Randnr. 35).

Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, stellt Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 eine gegenüber Absatz 1 des Artikels günstigere Bestimmung dar, die unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders behandeln wollte, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise verwirklicht wird (Urteil Akman, Randnr. 38).

Daraus folgt, dass Absatz 2 dieses Artikels nicht restriktiver ausgelegt werden kann als Absatz 1 und dass die Rechte, die er den türkischen Staatsangehörigen verleiht, die den Tatbestand dieses Absatzes 2 erfüllen, daher umso weniger unter anderen Voraussetzungen als denen, die im Rahmen des Absatzes 1 des Artikels anwendbar sind, eingeschränkt werden können.

Folglich kann es nur zwei Arten von Beschränkungen der durch Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte geben, nämlich entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. entsprechend Urteile Cetinkaya, Randnr. 36, und Aydinli, Randnr. 27).

Daher können entgegen der von der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vertretenen Auffassung die durch Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte nicht unter den gleichen Umständen beschränkt werden wie die durch Artikel 6 des Beschlusses verliehenen. Der türkische Staatsangehörige, dem solche Rechte zuerkannt worden sind, kann dieser Rechte also weder deshalb verlustig gehen, weil er wegen einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe keine Beschäftigung ausgeübt hat, noch aufgrund der Tatsache, dass er das Aufenthaltsrecht verloren hat, das aus dem zuvor nach Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses erworbenen Recht auf Beschäftigung abgeleitet wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil Aydinli, Randnr. 31).

Schließlich ist festzustellen, dass Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er nur für die Situation eines Minderjährigen gilt, der das Kind eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, nicht aber für die eines Volljährigen, der das Kind eines solchen Arbeitnehmers ist.

Zunächst trifft Artikel 7 in Absatz 2 keine solche Unterscheidung. Sodann würde dieser Absatz durch eine derartige Auslegung einen großen Teil seiner Substanz verlieren. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auch für die Situation eines Volljährigen gilt, der das Kind eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Cetinkaya, Randnr. 34, und Aydinli, Randnrn. 22 und 23), und dass nach dem mit diesem Beschluss eingeführten System Absatz 2 des Artikels 7 nicht restriktiver ausgelegt werden kann als Absatz 1 des Artikels (vgl. Randnrn. 22 bis 24 des vorliegenden Urteils).

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das volljährige Kind eines in einem Mitgliedstaat seit mehr als drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Wanderarbeitnehmers, das in diesem Staat eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, das aus dem Recht nach dieser Bestimmung, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, abgeleitete Aufenthaltsrecht nur in den Fällen des Artikels 14 Absatz 1 dieses Beschlusses oder dann verliert, wenn es das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt.