VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 02.03.2006 - 4 E 4366/04.A (3) - asyl.net: M8246
https://www.asyl.net/rsdb/M8246
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Mitglieder, Kämpfer, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Folter, Polizeigewahrsam, politische Entwicklung, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Politmalus, Reuegesetz, Gesetz zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Amnestie, Terrorismus, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Da die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, war die Beklagte zu einer entsprechenden Feststellung zu verpflichten, § 113 Abs. 5 VwGO.

Auf den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für vorverfolgte Asylbewerber entwickelte herabgestuften Maßstab ist im Rahmen der vorzunehmenden Verfolgungsprognose deshalb abzustellen, weil der Kläger dem Gericht gegenüber die erforderliche Überzeugung vermitteln konnte, dass er vor seiner Ausreise aus der Türkei bereits Repressalien aus politischen Gründen ausgesetzt war und er seine Heimat wegen der unmittelbar bevorstehenden Gefahr politischer Verfolgungsmaßnahmen verlassen hat.

Da der Kläger und seine Tätigkeit für die PKK den türkischen Behörden bekannt sind, muss er bei seiner Einreise zunächst mit Festnahme und weiteren Verhören rechnen. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Verhöre durch die Sicherheitskräfte ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der Kläger nach seiner erneuten Anklage aus der Türkei geflohen und sich mehrere Jahre erneut in Deutschland und damit in dem Land aufgehalten hat, aus dem er im Jahre 1993 politisch für die PKK motiviert in den Kampf für die Unabhängigkeit der kurdischen Gebiete gezogen ist. Die Folter, vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams und bei Überstellung in die Abteilungen zur Terrorismusbekämpfung, ist noch derart weit verbreitet, dass vorliegend nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass ihm diese Maßnahmen erneut treffen werden. So werden auch nach wie vor Kurden in der Türkei häufig noch Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität. Trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidriger Maßnahmen in Polizeihaft, sind diese Übergriffe insoweit auch weiterhin dem türkischen Staat zurechenbar. Bei den bekannt gewordenen Folterfällen handelt es sich insbesondere nicht um bloße Einzelfälle, vielmehr wird diese Methode noch systematisch angewandt, wenngleich sich auch offensichtlich die Menschenrechtslage insoweit in letzter Zeit stark verbessert hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in sein Heimatland entsprechenden Repressalien von asylerheblichem Gewicht ausgesetzt sein wird, ist mithin nicht als unbedeutend anzusehen, zumal er bereits wegen seiner Aktivitäten vor Gericht stand und nach der Entscheidung des Kassationsgerichtshofes das sogenannte Reuegesetz auf ihn keine Anwendung finden kann (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 22.01.2004 - 4 K 8268/02.A - in Juris; VG Köln, Urt. v. 09.06.2005 - 1 K 4558103.A -; HessVGH, Urt. v. 02.03.2005 - 6 UE 972/03.A -; VG München, Urt. v. 12.08.2005 - M 24 K 03.52211 - AuAS 2005, 267 f.).

Das Gericht folgt insoweit nicht den Ausführungen des von der Beklagten vorgelegten Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22.03.2005, das im Übrigen auch nicht rechtskräftig geworden ist und zudem auch einen anderen Sachverhalt betraf. Zwar ist den grundsätzlichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts Gießen zur Legitimität strafrechtlicher Verfolgung von Mitgliedern terroristischer Organisationen oder deren aktiver Unterstützung zu folgen. Und diese strafrechtliche Verfolgung stellt als solche ein legales staatliches Handeln in Bezug auf kriminelles Unrecht dar.

Allerdings kann die Verfolgung von Straftaten, die sich nach dem Vorangegangenen nicht als politische Verfolgung darstellt, in politische Verfolgung umschlagen, wenn nämlich objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Das ist insbesondere dann zu vermuten, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (BVerfG, B. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315, 337f).

Anders als das Verwaltungsgericht Gießen gelangt das erkennende Gericht vor allem aufgrund der bereits zuvor genannten Stellungnahmen sachinformierter Stellen und ganz besonders aufgrund der in das Verfahren eingeführten gutachterlichen Stellungnahme des Herrn Helmut Oberdiek vom 17.01.2006 mit dem Titel "Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei" zu der Einschätzung, dass die Strafverfolgung von aktiven Mitgliedern der PKK oder auch nur solchen, die in den Verdacht der Mitgliedschaft bzw. in den Verdacht ihrer Unterstützung gekommen sind in einer Art und Weise erfolgt, die weiterhin durchgreifende rechtsstaatliche Bedenken aufkommen lassen. In der gutachterlichen Stellungnahme wird aufgezeigt, dass die politischen und strafrechtlichen Reformen der vergangenen Jahre in der Türkei durchaus spürbare Veränderungen bewirkt haben. Doch wird unter Heranziehung von 18 detailliert referierten Fällen dargelegt, dass diese Reformen bislang insbesondere durch die Sicherheitsbehörden gegenüber Mitgliedern der PKK oder anderer politischer Gruppierungen keine hinreichende Anwendung finden. Das Gutachten kommt vielmehr zu dem Schluss, dass weiterhin systematisch gefoltert wird und die verfahrens- und prozessrechtlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von unter Folter erlangter Aussagen breitflächig missachtet bzw. durch taktische und einschüchternde Maßnahmen unterlaufen werden. Das Credo der Untersuchung lautet: "Die Reformen, die auf dem Papier stehen, sind bei den Sicherheitskräften und den Gerichten noch nicht angekommen". Angesichts der im Gutachten referierten Referenzfälle und der Ausführungen des Klägers zu seinen eigenen Erlebnissen in der Polizeihaft, die sich mit den Erfahrungen des Gutachters Oberdiek decken, kann das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es mehr als überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Kläger in seinem Heimatland vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen sicher ist.