VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 24.11.2005 - M 23 K 03.51720 - asyl.net: M8252
https://www.asyl.net/rsdb/M8252
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für allein stehende afghanische Frau mit westlichem Lebenstil.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Kabul, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zumutbarkeit, soziale Gruppe, alleinstehende Frauen, Situation bei Rückkehr, Ehrenmord, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für allein stehende afghanische Frau mit westlichem Lebenstil.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Eine Verfolgung durch entweder den Staat oder eine Organisation, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrscht, scheidet deswegen aus, weil in Afghanistan derzeit eine staatliche oder staatsähnliche Herrschaftsgewalt nicht vorhanden ist.

Jedoch liegt im Falle der Klägerin eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG vor.

Im Falle der Klägerin liegt aber eine drohende sog. geschlechtsspezifische Verfolgung vor.

Gemäß § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG kann als Sonderfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine solche sog. geschlechtsspezifische Verfolgung kann nach der Systematik des Gesetzes auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.

(1) Dass die Situation von insbesondere alleinstehenden Frauen in Afghanistan, vorsichtig ausgedrückt, sehr schlecht ist, dürfte unter Zugrundelegung der erreichbaren Erkenntnismittel offensichtlich sein.

Allein die dargestellte schlechte Situation für Frauen in Afghanistan führt jedoch grundsätzlich nicht dazu, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 3 AufenthG vorliegen.

Denn § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG verlangt, dass die Verfolgung allein wegen des Geschlechts drohen muss. Das bedeutet, dass afghanische Frauen, die sich länger im (europäischen) Ausland aufgehalten haben und sich an die hiesigen freieren Lebensverhältnisse angepasst haben (sog. "verwestlichte" Frauen), trotz der in Afghanistan drohenden Einengung ihrer persönlichen Freiheit und der Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse i.d.R. keine drohende sog. geschlechtsspezifische Verfolgung erfolgreich geltend machen können. Denn anders als in Fällen, die nach mittlerweile wohl überwiegender Meinung (vgl. statt vieler Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2006, AufenthG § 60, Rdnr. 56 m.w.N.; vgl. auch VGH Hessen, Urt. v. 23. 3. 2005 - 3 UE 3457/04.A -, EZAR-NF 062 Nr. 2) allein an das Geschlecht anknüpfen, wie namentlich die Genitalverstümmelung, knüpfen diese drohenden Einschränkungen und durchaus massiven Einschnitte in die in Deutschland erlernte Lebensweise nicht allein an das Geschlecht an, sondern bestehen nur dann und insoweit sich die betroffene Frau bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht den dortigen Umgangsformen und Forderungen, die an die Art und Weise, wie von Frauen verlangt wird, ihr Leben zu führen, anpasst. Das heißt, dass nicht jede Frau von drohender geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht ist, sondern nur diejenige, die sich den Anforderungen, welche die afghanische Gesellschaft an sie stellt, nicht unterordnet. Eine derartige Unterordnung bzw. Anpassung wird aber in der Rechtsprechung von den betroffenen Frauen regelmäßig verlangt (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 17. 5. 2002 - 6 A 10217/02.OVG - m.w.N.). Ein Schutzbedürfnis nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 wurde von dem Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 3. 11. 1992 - 9 C 21/92 -, BVerwGE 91, 150 = BayVBl 1993, 216 = InfAuslR 1993, 150) verneint, wenn eine durch die Rückkehr in das Heimatland entstehende Gefahr durch eigenes zumutbares Verhalten abgewendet werden kann. Diese Maßgabe ist zumindest grundsätzlich auch auf die Regelung des § 60 Abs. 1 AufenthG zu übertragen, allerdings ist bei dieser Übertragung auch den gesetzlichen Neuerungen Rechnung zu tragen.

Danach ist grundsätzlich daran festzuhalten, dass, wenn eine Verfolgung nicht begrifflich an das Geschlecht anknüpft, sondern an bestimmte Verhaltensweisen, mögen diese auch nur bei einem Geschlecht auftreten können, eine sog. geschlechtsspezifische Verfolgung grundsätzlich nicht vorliegt. Denn eine Anpassung an den Staat der eigenen Herkunft und dessen allgemeine gesellschaftliche und soziale Verhältnisse, mögen diese auch von den unsrigen deutlich differieren, ist grundsätzlich zumutbar und darf dem Betroffenen angesonnen werden. Dies folgt daraus, dass es nicht dem Zweck der Vorschriften zur Gewährung von Asyl bzw. von internationalem Schutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG entspricht, vor einer vor dem Hintergrund unserer Werteordnung abzulehnenden gesellschaftlichen Situation zu schützen, da die Durchsetzung unserer Grundrechtsordnung nicht Aufgabe des Asylrechts ist (BVerwG, Urt. v. 18. 2. 1986 - 9 C 16/85 -, BVerwGE 74, 31 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 44 NVwZ 1986, 569). Derartige Konstellationen verbleiben grundsätzlich in dem Bereich der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG, namentlich von § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG. Von diesem Grundsatz kann es aber nach Auffassung des Gerichts bei besonderen individuellen Situationen Ausnahmen geben. Denn die dargelegte Auffassung beruht wesentlich auf der Überlegung, dass es einer Frau, die von allgemein in ihrem Herkunftsland bestehenden Verhältnissen bedroht ist, grundsätzlich zuzumuten ist, sich zumindest im öffentlichen Leben den dortigen Verhältnissen soweit anzupassen, dass sie Übergriffen und unmenschlicher Behandlung im wesentlichen entgehen kann. Das setzt aber voraus, dass eine Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse erstens tatsächlich möglich und geeignet ist, die Bedrohungen jedenfalls wesentlich zu minimieren. Zweitens ist es aber auch notwendig, dass tatsächlich eine Zumutbarkeit dieser Anpassung bzw. Unterordnung gegeben sein muss. Bei der Zumutbarkeit ist insofern grundsätzlich ein objektiver Maßstab anzulegen, ein auch auf die subjektiven Umstände Rücksicht nehmender Maßstab kann allenfalls ausnahmsweise dann zusätzlich zu berücksichtigen sein, wenn ansonsten die betroffene Frau in ihrer Menschenwürde verletzt werden würde, weil das auch bei grundsätzlicher Anlegung eines objektiven Maßstabes die absolute und unüberschreitbare Grenze sein muss. Bei den eben geschilderten Umständen kann nach Ansicht des Gerichts ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen in einer Konstellation wie der vorliegenden die Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG möglich sein. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass ansonsten eine sog. geschlechtsspezifische Verfolgung seitens nichtstaatlicher Akteure, die aber sowohl von dem Wortlaut wie auch von der Systematik des Gesetzes, wie oben gezeigt, eben nicht ausgeschlossen, sondern methodisch möglich ist, praktisch nie vorkommen würde. Denn diese Konstellation - sog. geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure - ist an sich von vorneherein nur denkbar in einer Situation, die als Ausgangspunkt solche Verhältnisse wie derzeit in Afghanistan aufweist: Eine fehlende Staatsgewalt (so die st. Rspr. der Kammer, welcher der entscheidende Einzelrichter angehört, vgl. zuletzt Urt. v. 16. 9. 2005 - M 23 K 03.51675 -; vgl. hierzu näher die obigen Nachweise auf S. 7 ff.) auf der einen Seite und auf der anderen Seite eine tatsächlich für Frauen katastrophale Situation. Auch in einer solchen Situation wird für die große Mehrzahl der betroffenen Frauen die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ausscheiden, weil ihnen die Unterordnung unter die gegebenen Verhältnisse regelmäßig zumutbar sein wird. Aber insofern muss nach den oben dargelegten Kriterien nach Meinung des Gerichts auch Raum für individuell begründete Ausnahmen sein.

(3) Bei der Klägerin liegt eine solche Ausnahme nach der Überzeugung des Gerichts vor.

Die Klägerin ist eine alleinstehende ledige Frau. Danach wäre die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage, sich gegen drohende menschenunwürdige sog. geschlechtsspezifische Misshandlungen zur Wehr zu setzen. Auch eine Schutzgewährung durch die in Afghanistan tätigen Sicherheitskräfte ist nach den oben (insbesondere S. 16) dargestellten Erkenntnissen nicht erreichbar. Daher hätte die Klägerin, um ihr Überleben zu sichern, lediglich die Möglichkeit, entweder der Prostitution nachzugehen (vgl. Gutachten Dr. Danesch an das VG München vom 31. 5. 2005, S. 14) oder sich einen männlichen Beschützer zu suchen, wobei selbst insoweit nicht sichergestellt ist, dass sie als Rückkehrerin aus dem westlichen Ausland, die tendenziell von Ausgrenzung bedroht sind (vgl. hierzu Bericht "Rückkehr nach Afghanistan", insbesondere S. 12), hiermit Erfolg haben würde.