VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 01.03.2006 - VG 36 X 4.06 - asyl.net: M8265
https://www.asyl.net/rsdb/M8265
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, exilpolitische Betätigung, Änderung der Sachlage, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Folter, Rechtskraft, Urteil
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet, denn der angegriffene Widerrufsbescheid vom 15. Dezember 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling vorliegen, ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ist u.a. die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dem Widerruf steht nämlich gemäß § 121 VwGO die Rechtskraft des Urteils der Kammer vom 26. November 2004 entgegen.

Eine Lösung von der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann nur dann erfolgen, wenn die nachträgliche Änderung der Sachlage entscheidungserheblich ist, d.h., dass eine Befreiung von der Rechtskraftwirkung nicht allein deshalb eintritt, weil sich nachträglich neue Erkenntnisse über zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorhandene Tatsachen ergeben, nunmehr eine andere Würdigung des alten Sachverhalts vorgenommen werden soll oder mittlerweile eine neue oder geänderte ober- oder höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 8, S. 7 11>). Jedenfalls hat das Urteil der Kammer vom 26. November 2004 präjudizielle Wirkung (BVerwG, Urt. v. 24. November 1998 - 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30 32>) mit der Folge eines entsprechenden Abweichungsverbots.

Der angegriffene Widerruf liegt schließlich auch innerhalb der zeitlichen Grenze der materiellen Rechtskraft, denn die - angeblich - neuen Tatsachen stellen sich noch als Teil des Lebenssachverhalts des Erstprozesses dar. Neue Tatsachen vermögen nur dann einen neuen Streitgegenstand zu begründen, wenn es für die geltend gemachte Rechtsfolge um die rechtliche Bewertung eines jedenfalls in wesentlichen Punkten neuen Sachverhalt geht, zu dem das rechtskräftige Urteil - auch unter Berücksichtigung seiner Rechtsfrieden und Rechtssicherheit stiftenden Funktion - keine verbindliche Aussage mehr enthält (BVerwG, Urteil vom v. 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 8, S. 7 10>). Allein der bloße Zeitablauf oder die bloße Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylberechtigten ohne konkreten Bezug auf diesen stellt dabei keine nachträgliche wesentliche Sachverhaltsänderung dar. Einen solch neuen Sachverhalt hat die insoweit beweisbelastete Beklagte weder dargetan noch ist dies ersichtlich.

Die Beklagte hat in dem angegriffenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Sachlage habe sich ausweislich des Fortschrittsberichts der EU vom 6. Oktober 2004 und des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005 grundlegend geändert. Dabei wird lediglich allgemein behauptet, die Türkei habe erhebliche Fortschritte hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte gemacht und seit vier Jahren sei kein Fall bekannt geworden, in dem ein abgelehnter Asylbewerber misshandelt worden sei. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angegriffenen Widerrufsbescheids jedoch nicht. Neue Tatsachen, die eine abweichende Beurteilung der Wahrnehmung der Besetzungen des griechischen und israelischen Konsulats durch die türkischen Sicherheitskräfte rechtfertigen würden, sind auch nicht ersichtlich, zumal die Kammer bei der Beurteilung der Rückkehrgefährdung des Klägers die maßgebliche Sachlage anhand der Erkenntnisse gemäß der Erkenntnisliste Türkei Stand 1. Juli 2004 und u.a. auch anhand des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai 2004 (S. 31) beurteilt hatte. Dieser Lagebericht schätzt die Gefahr aufgrund herausgehobenen exilpolitischen Verhaltens im Wesentlichen wie der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005 (S. 27) ein, in dem ebenfalls ein fortbestehendes Interesse der türkischen Strafverfolgungsbehörden an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung festgestellt wird. Dieses beziehe sich auf Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter und Aufwiegler angesehen würden. Dass der Kläger aus der Sicht der türkischen Sicherheitskräfte als eine solche Person wahrgenommen werde, hat die Kammer mit dem Urteil vom 26. November 2004 festgestellt.

Im Übrigen ist die Kammer der Auffassung, dass die Reformen in der Türkei noch nicht zu einer solchen nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage für die von den türkischen Sicherheitskräften in Blick genommenen Personen geführt haben (Urteile der Kammer vom 22. November 2005 - VG 36 X 11.05 und 10. Februar - VG 36 X 312.99) bzw., dass eine abweichende Gefahrenprognose für Personen, die sich - wie der Kläger - exilpolitisch exponiert haben, vorgenommen werden müsste (vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz vom 18. November 2005 - 10 A 10580/05.OVG amtl. Abdruck S. 13 ff. unter Bezugnahme auf das Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG). Auch nach den jüngeren Auskünften kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (frühere) Angehörige der PKK oder solche, die sie dafür hält, vorgeht. Nach wie vor kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A, S. 31 ff. des UA m.w.N.; im Ergebnis ebenso OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. November 2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 2005, S. 32, OVG Saarland, Urteil vom 1. Dezember 2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 2005, S. 30 und OVG Thüringen, Urteil vom 18. März 2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 2005, S. 34). Es handelt sich bei diesen Übergriffen auch nicht generell um Exzesstaten, da sie weit verbreitet sind und nach Beendigung des Waffenstillstandes seitens der PKK am 1. Juni 2004 sogar wieder zugenommen haben (vgl. Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 2 ff.). Auch das Auswärtige Amt räumt ein, dass es der Regierung bislang noch nicht gelungen ist, Folter und Misshandlungen gänzlich zu unterbinden (Auskunft vom 24. November 2004 an das OVG Nordrhein-Westfalen; ebenso Taylan, Gutachten vom 17. März 2005 an VG Frankfurt/Oder). Einer hohen Gefährdung, der Folter und Misshandlung unterzogen zu werden, unterliegen dabei insbesondere Funktionäre, aktive Mitglieder und Sympathisanten kurdisch orientierter Parteien und Organisationen (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., S. 34 ff., m.w.N., insbesondere dem Gutachten von Kaya vom 25. Oktober 2004). Dabei mag es sein, dass für prominente Gefangene wie Metin Kaplan oder Abdullah Öcalan, die unter internationaler Beobachtung stehen, die Gefahr der Misshandlung und Folter relativ gering ist. Dies trifft aber auf relativ unbedeutende (vermeintliche) Mitglieder gewaltsam agierender Oppositionsgruppen nicht gleichermaßen zu. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich in der Türkei verschiedene staatliche Kräfte gegenüberstehen, die nicht dieselben Interessen verfolgen. Während man der Regierung Erdogan zugestehen mag, dass sie bemüht ist, Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte zu unterbinden, stehen ihr nach wie vor starke Kräfte in Justiz- und Polizeiapparat entgegen, die kein Interesse an der Einhaltung der Reformen haben, die die Türkei der Europäischen Union näher bringen sollen, sondern im Gegenteil darauf abzielen, den Beitritt zu erschweren, weil sie den Verlust eigener Machtpositionen befürchten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005, S. 9 f., 27 f. und 30 ff.; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 2). Diese Kräfte wenden nach wie vor die ihnen vertrauten rechtsstaatswidrigen Methoden an und gehen unnachsichtig gegen Personen wie den hiesigen Kläger vor, die aus ihrer Sicht den türkischen Staat gefährden oder dies in der Vergangenheit getan haben. Selbst international renommierte Schriftsteller wie Orhan Pamuk (aber auch zahlreiche weniger bekannte Autoren) werden mit strafrechtlichen Verfahren überzogen, z.B. weil sie sich in Interviews oder Publikationen kritisch über die Vergangenheit der Türkei (wie etwa den Völkermord an den Armeniern vor 90 Jahren) geäußert haben (vgl. dazu etwa die Berichte in der Süddeutschen Zeitung vom 15. September 2005 und 11. Oktober 2005). Beamte des Geheimdienstes sollen sogar in einen Bombenanschlag auf einen Buchladen mit Todesopfern in der Stadt Semdinli verwickelt sein (vgl. die Berichte in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. November 2005 und in "Die Welt" vom 14. und 15. November 2005). Auch das Anti-Folter-Komitee des Europarats hat in seinem jüngsten Bericht festgestellt, dass in der Türkei nach wie vor Festgenommene gefoltert und misshandelt werden (vgl. Tagesspiegel vom 10./11. Dezember 2005). Vor diesem Hintergrund kann derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei einer rechtsstaatlichen Behandlung ausgesetzt wird.