OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.04.2006 - 8 A 4323/03.A - asyl.net: M8272
https://www.asyl.net/rsdb/M8272
Leitsatz:
Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Abschiebungshindernis, Krankheit, psychische Erkrankung, fachärztliche Stellungnahmen, Beweiserhebung, Beweiswürdigung, Amtsermittlungsgrundsatz
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1; VwGO § 86 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Daran fehlt es hier. Die von den Klägern als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage, "welche Anforderungen an ein klinisches Gutachten zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung und damit eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses zu stellen sind," wäre in einem Berufungsverfahren nicht klärungsfähig.

Die Grundsatzrüge ist jedenfalls deshalb unbegründet, weil die von den Klägern als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehene Frage keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich ist. Die Anforderungen an die Qualität eines Gutachtens, das zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung dienen soll, lassen sich nicht abstrakt bestimmen. Die Würdigung der Qualität eines Beweismittels richtet sich nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet (vgl. Höfling/Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., 2006, § 108 Rn. 45; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., 2005, § 108 Rn. 4).

Ebenso wie es dem Gericht bei der Ermittlung des Sachverhalts verboten ist, eine Auswahl und Selektion von Beweismitteln vorzunehmen und abweichende Erkenntnismittel nicht in nachprüfbarer Weise zu berücksichtigen, muss es bei der ihm obliegenden Würdigung eines Beweismittels alle sich aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens ergebenden Umstände einbeziehen und sich mit den einzelnen Gesichtspunkten abwägend auseinander setzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 -, NVwZ 2003, 224).

Der Verfahrensgrundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet, dass das Gesetz dem Richter grundsätzlich - vorbehaltlich hier nicht in einschlägiger ausdrücklicher Regelungen wie etwa in § 105 VwGO i.V.m. § 165 ZPO oder in § 98 VwGO i.V.m. §§ 415 bis 419 ZPO - keine festen Regeln für seine Überzeugungsgewinnung bzw. Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorschreibt. Demzufolge handelt es sich bei der richterlichen Überzeugungsbildung um einen inneren Wertungsvorgang, der sich in der Person des Richters vollzieht. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind nur dann verletzt, wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, wenn es insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, oder wenn es aus sonstigen Gründen die Grenzen einer objektiv willkürfreien, die Natur- und Denkgesetze sowie die allgemeinen Erfahrungssätze beachtenden Würdigung überschritten hat. Sinn und Zweck der freien richterlichen Beweiswürdigung ist es, das Gericht nicht an starre Regeln zu binden, sondern ihm zu ermöglichen, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005, - 1 C 29.03 -, BVerwGE 122, 376, m.w.N.).

Dabei gilt der allgemeine Grundsatz, dass "das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind." (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180).

Davon ausgehend können die Beweiseignung und die Überzeugungskraft eines Gutachtens nicht allgemein und generell bestimmt werden. Ob ein Gutachten ausreicht, dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, dass eine psychische Erkrankung wie etwa eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, ist nur in Bezug auf den konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung von Art und Gewicht der sonstigen in die Überzeugungsbildung einfließenden Umstände zu beantworten. Je unabweisbarer die geltend gemachten Krankheitssymptome sind und je plausibler der Ursachenzusammenhang zwischen einem glaubhaft geschilderten traumatisierenden Erlebnis und dem Krankheitsbild erscheint, desto geringer sind die Anforderungen an ein Gutachten, auf das das Verwaltungsgericht seine richterliche Überzeugung stützen kann. Im umgekehrten Fall kann das Gericht, ohne die Grenzen der freien Beweiswürdigung zu überschreiten, umso höhere Anforderungen an die wissenschaftliche Tragfähigkeit und innere Überzeugungskraft eines derartigen Gutachtens stellen, je gewichtiger die in dem Verfahren zu Tage getretenen Umstände sind, die gegen die Annahme sprechen, dass dem Betreffenden das behauptete Traumaerlebnis tatsächlich widerfahren sein könnte.

Klarstellend ist allerdings festzuhalten, dass den Asylbewerber keine Beweisführungslast trifft. Vielmehr ist es grundsätzlich auch im asylrechtlichen Klageverfahren Sache des Gerichts, den Sachverhalt - soweit erforderlich - von Amts wegen aufzuklären (§ 86 Abs. 1 VwGO) und im Rahmen seiner Überzeugungsbildung alle Umstände zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Das gilt auch in Bezug auf die Tatsachen, die die Annahme eines Abschiebungshindernisses i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG begründen können. Hiernach gibt eine ärztliche Bescheinigung, durch die dem Asylbewerber eine psychische Erkrankung attestiert wird, dem Verwaltungsgericht nicht erst dann Anlass zur weiteren Sachaufklärung, wenn sie in jeder Hinsicht den an ein zur Beweisführung geeignetes Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. hierzu ausführlich OVG NRW, Beschluss vom 24. Januar 2005 - 8 A 159/05.A -, NVwZ-RR 2005, 507).