VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 28.04.2006 - 7 K 632/05.A - asyl.net: M8297
https://www.asyl.net/rsdb/M8297
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Sicherheitslage, zwingende Gründe, Homosexuelle, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Erlasslage, extreme Gefahrenlage, Nordirak
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; Irak StGB § 400; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Rechtsgrundlage für den von der Beklagten ausgesprochenen Widerruf ist § 73 Abs. 1 AsylVfG.

Die Verhältnisse im Irak haben sich grundlegend und dauerhaft verändert. Eine politische Verfolgung findet dort nicht mehr statt. Das ist nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins allgemeinkundig (OVG Bremen, u. a. B. v. 06.01.2006, 2 A 448/02.A).

Auch die angesichts der Vielzahl terroristischer Anschläge unverändert kritische Sicherheitslage mit nahezu bürgerkriegsähnlichen Zügen lässt eine Umkehr der derzeitigen Machtverhältnisse hin zu einem der Herrschaft des Saddam Hussein vergleichbaren Unrechtsregime für die überschaubare Zukunft nicht wahrscheinlich sein, zumal die NATO die irakische Regierung im Aufbau neuer irakischer Sicherheitskräfte unterstützt und derzeit noch über 150.000 Soldaten einer multinationalen Truppe auf der Grundlage der Resolution 1637 des UN-Sicherheitsrates im Irak stationiert sind. Deren Mandat ist bis Ende 2006 verlängert worden (vgl. u. a. auch VGH München, Urt. v. 13.10.2005, 23 B 05.30308; BVerwG, B. v. 15.02.2006, 1 B 120/05; OVG Lüneburg, B. v. 13.02.2006, 9 LB 75/03).

Zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG, aus denen der Kläger die Rückkehr in den Irak ablehnen könnte, sind nicht ersichtlich. Die Befürchtung, wegen seiner erst in Deutschland "entdeckten" Homosexualität gesellschaftlicher Ächtung und Verfolgung durch regiöse Fanatiker im Irak ausgesetzt zu sein, ist unbegründet. Die Behauptung, ein "Outing" seiner homosexuellen Veranlagung sei ihm als verheiratetem Ehemann und Vater zweier Töchter erst nach seiner Ausreise aus dem Irak möglich gewesen, als ihm diese Veranlagung in Deutschland bewußt geworden sei, ist völlig unglaubhaft und offenbar auf das vorliegende Verfahren zugeschnitten.

Abgesehen davon sind trotz der Strafbarkeit der Homosexualität im Irak als "widernatürliche sexuelle Betätigung" (Art. 400 IrakStGB) staatliche Maßnahmen schon deshalb nicht wahrscheinlich, weil von den Betroffenen zu erwarten ist, selbst alles daran zu setzen, sich "äußerst bedeckt zu halten", (Brocks, Gutachten vom 04.07.2005 an VG Leipzig, Az. A 6 K 30060/03). Gegen gesellschaftliche Repressalien im Einzelfall würden die Sicherheitsorgane wohl nicht einschreiten, da solche Repressalien nach den im Irak verwurzelten moralischen Vorstellungen im Einklang mit den allgemeinen Sitten und Anstandsvorstellungen stünden (Brocks a. a. O.).

Die Klage bleibt auch erfolglos, soweit der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begehrt.

Für den Kläger besteht ein solcher gleichwertiger Abschiebungschutz. Eine Abschiebung irakischer Staatsangehöriger droht gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht. Der Senator für Inneres und Sport hat durch Erlass zuletzt vom 13.01.2006 dargelegt, dass wegen der instabilen Sicherheitslage in weiten Teilen des Iraks zwangsweise Rückführungen aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sind. Wann mit einer Rückführung begonnen werden könne, sei derzeit nicht absehbar. Vollziehbar ausreisepflichtigen irakischen Staatsangehörigen seien daher (weiterhin) Duldungen gem. § 60 a Abs. 2 AufenthG zu erteilen. Die Duldungen sollten für sechs Monate erteilt werden.

Damit sind die betroffenen Ausländer gegenwärtig wirksam vor einer Abschiebung in den Irak geschützt, so dass ihnen nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu gewähren ist (vgl. VGH München, Urt. v. 03.03.2005, 23 B 04.30734; zu § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG: VGH Mannheim, Urt. v. 19.09.2004, A 2 S 471/02; OVG Münster, Urt. v. 06.07.2004, 9 A 1406/02.A).

Der Kläger ist auch bei einer Änderung der Erlasslage nicht schutzlos gestellt. Im Falle der Nichtverlängerung des Erlasses kann er unter Berufung etwa auf eine nach wie vor bestehende extreme Gefahrenlage ein Wiederaufgreifen des Verfahrens beim Bundesamt verlangen und den geltend gemachten Anspruch weiterverfolgen (vgl. BVerwGE 114, 379; BVerwG, B. v. 28.08.2003 a. a. O.) und bei unmittelbar drohender Abschiebung erforderlichenfalls gerichtlich dagegen vorgehen. Denn auch ohne Berücksichtigung der derzeitigen Erlasslage spricht alles dafür, dass gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren ist (wäre), weil gegenwärtig für in ihre Heimat zurückkehrende Iraker landesweit - mit gewissen Besonderheiten für den irakischen (kurdischen) Norden - eine allgemeine Gefahrenlage besteht. Das ist aufgrund nahezu täglicher Presseberichte allgemeinkundig und wird durch andere Erkenntnisquellen gestützt (vgl. u. a. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak; Stand: Nov. 2005, Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration; Irak, Stand: 10.03.2006).