VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 03.02.2006 - AN 9 K 04.31515 - asyl.net: M8333
https://www.asyl.net/rsdb/M8333
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, religiös motivierte Verfolgung, Schutzfähigkeit, Christen, Assyrer, Islamisten, Mosul, Polizei, Nordirak, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zuerkennung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu.

Nach dem Vortrag des Klägers in der Vorprüfung vor dem Bundesamt wie in den mündlichen Verhandlungen muss davon ausgegangen werden, dass ihm zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus dem Irak ernsthaft politische Verfolgung im obigen Sinne durch die so genannten sonstigen Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG gedroht hat.

Demnach war er als Mitglied der christlich-assyrischen Bevölkerungsgruppe und wegen seiner Tätigkeit des Betreibens eines Alkoholladens von Verfolgung durch strenggläubige Muslime betroffen und weiter bedroht. Dem liegt zu Grunde, dass der Kläger - nach seinen glaubhaften Angaben mit einer behördlichen Zulassung - seit Jahren in Mosul einen Laden für Alkohol betrieben hat. Nach dem Sturz des Regimes des Saddam Hussein ist er nach seinen glaubhaften Bekundungen von radikalen Moslems zunächst aufgefordert worden, diesen Laden zu schließen, weil das Betreiben dieses Ladens den religiösen Gefühlen der Moslems zuwider laufe. Schließlich habe man seitens der Moslems Inventar und Waren im Laden zerstört und zwei Wochen später, im August 2003, den Laden niedergebrannt. Bei der Zerstörung von Inventar und Waren habe man darüber hinaus ihn und seinen ebenfalls anwesenden Bruder zusammengeschlagen. Da man darüber hinaus auch auf das Haus, in dem der Kläger mit seiner Familie gewohnt habe, geschossen habe, und ein anderer Christ, der ebenfalls Inhaber eines Alkoholgeschäftes gewesen sei, ermordet worden sei, habe der Kläger um seine Sicherheit und sein Leben fürchten müssen.

Die Schilderungen des Klägers zu diesem vorgetragenen Ausreisegrund waren in sich schlüssig, nachvollziehbar und plausibel und werden auch durch die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünfte bestätigt.

Angesichts der demnach fehlenden Möglichkeit der irakischen Staatsorgane, seinen Staatsbürgern hinreichend Sicherheit und Ordnung, insbesondere gegenüber Übergriffen anderer Volks- und Religionsgruppen zu garantieren, kommt es im Irak im Verhältnis zwischen Moslems und Christen immer wieder zu solchen Vorkommnissen, wie sie der Kläger glaubhaft im Verfahren für sich selbst geschildert hat.

Darüber hinaus bestand für den Kläger auch keine inländische Fluchtalternative, etwa in den kurdisch besiedelten und verwalteten Provinzen im Nordirak. Wie sich aus dem zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom 4. Oktober 2005 hinreichend deutlich ergibt, wäre der Kläger dort als allein stehender junger Christ nicht sicher gewesen.

Nach den weiteren Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 1. Februar 2006 sowie nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften muss weiter davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer jetzigen Rückkehr in den Irak nicht vor weiteren Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG hinreichend sicher ist. Dies gilt zwar nicht für ihn als Zugehörigen der Gruppe der Christen im Irak, wohl aber im Hinblick auf die bei ihm darüber hinaus vorliegenden individuellen Verfolgungsgründe.

Die vom Kläger wegen seiner Mitgliedschaft in der assyrischen Kirche und somit als Grupenzugehöriger befürchtete Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG ist nicht gegeben.

Von einer unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung der Christen geht der Kläger selbst nicht aus. Es besteht daher allein die Möglichkeit einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG. Eine derartige Gruppenverfolgung beruht in ihrer Zielsetzung auf privater Initiative und wird bei ihrer Verwirklichung durch Aktivitäten von privater Seite getragen und muss in den Verantwortungsbereich des sie nicht verhindernden Staates fallen (BVerwG v. 24.7.1990 a.a.O.). Von einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG kann demnach nur dann gesprochen werden, wenn sie sich in flächendeckenden Massenausschreitungen äußert, weil erst bei einer solchen Verfolgungsdichte die Erstreckung des Vorverfolgtenstatus auf grundsätzlich alle Gruppenmitglieder unabhängig von dem Nachweis bereits erlittener oder unmittelbar bevorstehender Verfolgung in eigener Person gerechtfertigt ist.

Eine dermaßen geprägte Situation, die zu einer für die Christen zu befürchtenden Gruppenverfolgung im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlich führen würde, kann nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften des Auswärtigen Amtes, des Deutschen Orient-Instituts, des UNHCR, des Europäischen Zentrums für kurdische Studien und von amnesty international nicht festgestellt werden. Zwar steht nach diesen Auskünften grundsätzlich fest, dass sich die Situation der christlichen Minderheiten im Irak seit dem Sturz des Regimes des Saddam Hussein teilweise deutlich verschlechtert hat, doch stellt dies noch keine Verfolgungssituation im oben genannten Sinne dar.

Für den Kläger kann aber unter Berücksichtigung seines Vorbringens sowohl beim Bundesamt wie auch in den mündlichen Verhandlungen eine individuelle Verfolgungsgefahr bei einer jetzigen Rückkehr in den Irak nicht mit der notwendigen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden. Dem Kläger, der bereits unter Verfolgungsmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure zu leiden hatte, kann daher nicht zugemutet werden, in den Irak zurückzukehren, wo sich die Situation gegenüber dem Zeitpunkt seiner Ausreise insoweit nicht geändert, vielmehr gerade für ihn verschärft hat.

Schließlich steht dem Kläger insoweit auch keine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen des Irak, vornehmlich in dem von den Kurden verwalteten und beherrschten Nordirak zur Verfügung. Zwar leben im Nordirak christliche Iraker sowohl der chaldäischen wie auch der assyrischen Glaubensrichtung. Doch muss nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften, insbesondere den Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom 7. März und 4. Oktober 2005 entnommen werden, dass ohne familiäre Verbindungen in diesen eher weniger von Gewalt beherrschten Teilen des Irak eine materielle Existenzsicherung nicht möglich ist.