VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 15.02.2006 - 3 A 6007/05 MD - asyl.net: M8342
https://www.asyl.net/rsdb/M8342
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für tschetschenischen Volkszugehörigen wegen Verweigerung der Registrierung im Falle der Rückkehr; keine inländische Fluchtalternative in Russland.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Situation bei Rückkehr, Freizügigkeit, Registrierung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Filtrationslager, Existenzminimum, Sozialhilfe, interne Fluchtalternative, Versorgungslage, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für tschetschenischen Volkszugehörigen wegen Verweigerung der Registrierung im Falle der Rückkehr; keine inländische Fluchtalternative in Russland.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG vor.

Nach Auffassung des Gerichtes ist der Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt, auf welchen unter Berücksichtigung des § 77 Abs. 1 AsylVfG abzustellen ist, im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung ausgesetzt.

Aufgrund der Angaben des Klägers vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie dessen Anhörung in tschetschenischer Sprache ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger ist. Das Gericht vermag allerdings zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers und im gegenwärtigen Zeitpunkt keine staatlicherseits betriebene oder geduldete gruppengerichtete Verfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien zu bejahen. Auch wenn verschiedentlich Ansatzpunkte für eine Gruppenverfolgung gesehen werden (vgl. dazu u. a. VG Karlsruhe, U. v. 10.03.2004, Az.: A 11 K 12494/03 m. w. N.) und vielfache Anzeichen für Repressionen gegenüber Tschetschenen vorliegen, reicht die Zahl der feststellbaren Verfolgungsfälle in ihrer Dichte nicht aus, um die hohen Anforderungen der Rechtsprechung an eine staatliche Gruppenverfolgung anzunehmen.

Es fehlen auch hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger vorverfolgt aus ihrer Heimat ausgereist ist. Dem Kläger droht im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens im Fall der Rückkehr mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit, politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG).

In der Praxis wird an vielen Orten (u. a. in großen Städten, wie z. B. Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit der antikaukasischen Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal in der Russischen Föderation niederzulassen. Aufgrund der restriktiven Vergabepraxis von Aufenthaltsgenehmigungen haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Es finden sich zahlreiche Berichte und Stellungnahmen, dass Tschetschenen häufig die Registrierung verweigert wird, wobei diese gesetzwidrige Praxis nicht nur auf die Ballungszentren in Moskau und St. Petersburg beschränkt ist (vgl. hierzu VG Karlsruhe, a. a. O.; VG Ansbach, U. v. 27.2.2002, Az.: AN 10 K 01.31472; VG Mainz, U. v. 4.03.2002, Az.: 6 K 884/01.MZ, VG Schleswig, U. v. 16.9.2002, Az.: 4 A 303/01; Stellungnahme des UNHCR vom Januar 2002, S. 10; Memorial, nach der Flucht aus Tschetschenien, Stand: 2002, S. 4, 7). Wie in diesem Zusammenhang das VG Karlsruhe in seinem Urteil vom 10.03.2004 (Az.: A 11 K 12494/03) im Einzelnen ausgeführt hat, hat sich die gesetzwidrige Praxis auf das gesamte russische Staatsgebiet ausgeweitet.

Die Verweigerung der zeitweisen oder dauerhaften Registrierung ist auch eine zielgerichtete Maßnahme in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale - die tschetschenische Volkszugehörigkeit -, die dem russischen Staat zurechenbar ist. Trotz der in Regierungskreisen bekannt gewordenen ungesetzlichen Anwendung der Registrierungsvorschriften zum Nachteil der Tschetschenen war und ist die russische Regierung offenbar nicht bereit, diese ungesetzliche Praxis abzustellen, oder sie hat nicht das zur Schutzgewährung Erforderliche eingesetzt. Anhaltspunkte dafür, dass die Sorge um die Einhaltung der Registrierungsvorschriften ihre Kräfte übersteigt, sind nicht ersichtlich. Die Verweigerung der Registrierung ist auch asylerheblich, da, wie bereits ausgeführt, die Verweigerung der Registrierung den Zugang zum Gesundheits- und Schulwesen, zur Anmietung von Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt und in der Regel auch zum Arbeitsmarkt für unselbständige Tätigkeiten sperrt. Sie zwingt den Betroffenen, entweder in der Illegalität zu leben oder nach Tschetschenien ins Kriegsgebiet zurückzukehren, was dem Kläger/der Klägerin/den Klägern schon wegen der ihm/ihr/ihnen dort drohenden politischen Verfolgung nicht zuzumuten ist, oder ins Ausland zu flüchten (so im Ergebnis auch VG Karlsruhe, a. a. O.).

Es liegen auch keine Umstände vor, aufgrund deren bei dem Kläger die Folgen der Nichtregistrierung in zumutbarer Weise vermieden werden könnten und deshalb die Gefahr einer politischen Verfolgung zu verneinen wäre. Für tschetschenische Flüchtlinge bzw. Rückkehrer ist angesichts der Tatsache, dass ca. 40 % der Bevölkerung der Russischen Föderation unterhalb des Existenzminimums leben und sich ihren Unterhalt meist durch Hilfe von Freunden und Verwandten oder durch unterschiedliche Formen der weit verbreiteten Schattenwirtschaft sichern können, ein Leben in der Illegalität grundsätzlich nicht zumutbar. Ein Leben in der Illegalität beinhaltet die Gefahr, wegen des illegalen Aufenthaltes von der Polizei aufgegriffen, misshandelt, angeklagt und nach Tschetschenien abgeschoben zu werden (vgl. dazu VG Mainz, U. v. 04.03.2002, Az.: 6 K 884/01.MZ; VG Karlsruhe, a. a. O.).

Angesichts der durch die jüngsten Selbstmordattentate, das Moskauer Geiseldrama und das Geiseldrama von Beslan angespannten Situation in Tschetschenien und der Russischen Föderation hält das erkennende Gericht - im Gegensatz zu älteren Entscheidungen anderer Gerichte (vgl. z. B. VG Braunschweig, Urt. v. 24.07.2002 - 8 A 98/02; OVG Lüneburg, B. v. 07.10.2002 - A 3 L A 275/02 -) - ein Leben in der Illegalität für unzumutbar aufgrund der bestehenden Gefahr von Hunger, Verelendung und der Gefährdung von Leib und Leben.

Dem Kläger steht auch innerhalb der Russischen Föderation keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, wobei nur Tschetschenien verbleibt. Aufgrund der in Tschetschenien herrschenden, gerichtsbekannten Situation ist Tschetschenien nicht als verfolgungssicherer Ort zu betrachten.