VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.05.2006 - 13 S 313/06 - asyl.net: M8368
https://www.asyl.net/rsdb/M8368
Leitsatz:

Psychische Erkrankungen im Kosovo nur medikamentös behandelbar.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, traumatisierte Flüchtlinge, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Beistandsgemeinschaft, Ausreisehindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

Psychische Erkrankungen im Kosovo nur medikamentös behandelbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässigen, insbesondere fristgerecht erhobenen (§ 147 Abs. 1 VwGO) und mit Gründen versehenen (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) Beschwerden haben sachlich Erfolg; die von den Antragstellern nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO ausreichend substantiiert dargelegten Bedenken gegen die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart führen zu der von ihnen beantragten Abänderung. Anders als das Verwaltungsgericht hält es der Senat für geboten, die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller gegen die Verfügungen der Antragsgegnerin vom 21.6.2004 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 1.8.2005 anzuordnen, mit denen der Antrag der Antragsteller auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihnen die Abschiebung nach Serbien-Montenegro (Kosovo) angedroht worden ist.

Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erscheint es dem Senat zunächst offen, ob die Antragstellerin gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG einen Anspruch auf Verlängerung der ihr am 29.10.2001 erteilten, bis 29.4.2002 gültigen Aufenthaltserlaubnis hat. Nach dieser Vorschrift soll einem Ausländer u.a. dann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.

Es kann nach derzeitigem Sachstand nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Antragstellerin im Falle ihrer Abschiebung in den Kosovo entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Ansicht nicht doch eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes droht. Die Antragstellerin leidet offenbar an einer komplexen traumatischen Störung, einer Somatisierung und einer schweren depressiven Symptomatik. Hiervon ist bereits Dr. S. vom Gesundheitsamt (Landratsamt Esslingen) in ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 12.1.2004 ausgegangen. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen ist doch recht fraglich, ob psychische Krankheitsbilder, wie sie bei der Antragstellerin vorliegen, aufgrund des schlechten medizinischen Standards im Kosovo überhaupt ausreichend therapiert werden können, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seiner Stellungnahme gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG vom 13.7.2005 meint (vgl. insoweit nämlich auch seine Stellungnahme vom 13.10.2005 an das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin vom 13.10.2005 - Az. 5184581-132 sowie den Lagebericht des Auswärtigen Amtes - Serbien und Montenegro - vom 22.11.2005, S. 20). Psychotherapeutische Methoden werden in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen im Hinblick darauf, dass es einen eklatanten Mangel an ausgebildetem Personal gibt, im Kosovo nur selten angewandt. Zwar gibt es einzelne privat praktizierende Fachärzte für Psychiatrie; deren Behandlungsplätze im privaten Bereich sind jedoch begrenzt und die Kosten muss der Patient selbst tragen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien-Montenegro a.a.O., S. 23). Es kann hiernach nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass jede Person, die eine psychotherapeutische Behandlung benötigt, eine solche auch in angemessener Zeit und in ausreichender Qualität erfährt. Sichergestellt ist hiernach mit hinreichender Sicherheit nur eine rein medikamentöse Behandlung der psychischen Erkrankung der Antragstellerin. Ob diese jedoch im Fall einer Abschiebung der Antragstellerin in den Kosovo ausreicht, einer erheblichen Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes mit der Folge suizidaler Handlungen entgegenzuwirken, ist eine offene Frage, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. Hiernach ist nicht ausgeschlossen, dass der Antragstellerin gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zusteht.

Gleichermaßen offen ist auch, ob sich die Antragstellerin für ihr Begehren auf einen aufenthaltsrechtlichen Titel nicht auf § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG berufen kann. Nach ihrem Vortrag ist sie auf die Hilfe und die Unterstützung ihrer Kinder, insbesondere aber die ihres Sohnes S. M., angewiesen (vgl. dessen eidesstattliche Versicherung vom 16.2.2006). Eine Trennung von ihren Kindern sei für sie deshalb unzumutbar, weil sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr in der Lage sei, ein eigenständiges Leben zu führen, und ihr Ehemann ihr nicht als Stütze dienen könne.

Ob zwischen der Antragstellerin und ihren Kindern jedoch eine von Art. 6 Abs.1 GG geschützte Beistandsgemeinschaft vorliegt, die nur im Bundesgebiet geführt werden kann und die deshalb ein von der Ausländerbehörde in eigener Entscheidungskompetenz zu prüfendes inlandsbezogenes rechtliches Ausreisehindernis darstellt, auf das sich auch der Antragsteller bei der Verfolgung seines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf das in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte Gebot des Familienschutzes berufen könnte, bedarf jedoch noch der weiteren Aufklärung.