VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 24.04.2006 - A 11 K 13347/05 - asyl.net: M8369
https://www.asyl.net/rsdb/M8369
Leitsatz:

1. Liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, ist das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots auf Null reduziert.

2. Bei den Auskünften des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo ist zu berücksichtigen, dass sie sich auf den jeweiligen medizinischen Einzelfall beziehen und die getroffenen Aussagen nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können.

3. Auch die Botschaftsberichte des Auswärtigen Amtes (Verbindungsbüros) über die Verfügbarkeit bestimmter Medikamente können nicht verallgemeinert werden. Denn im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten.

4. Die Sozialhilfeleistungen im Kosovo reichen nicht zum Leben aus.

5. Menschen aus dem Kosovo haben nicht die Möglichkeit, im übrigen Serbien und Montenegro Krankenversicherungsschutz zu erhalten.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Morbus Behcet, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskünfte, Auswärtiges Amt, Auskunftslage, Sozialhilfe, Lebensunterhalt, interne Fluchtalternative, Albaner, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, ist das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots auf Null reduziert.

2. Bei den Auskünften des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo ist zu berücksichtigen, dass sie sich auf den jeweiligen medizinischen Einzelfall beziehen und die getroffenen Aussagen nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können.

3. Auch die Botschaftsberichte des Auswärtigen Amtes (Verbindungsbüros) über die Verfügbarkeit bestimmter Medikamente können nicht verallgemeinert werden. Denn im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten.

4. Die Sozialhilfeleistungen im Kosovo reichen nicht zum Leben aus.

5. Menschen aus dem Kosovo haben nicht die Möglichkeit, im übrigen Serbien und Montenegro Krankenversicherungsschutz zu erhalten.

(Amtliche Leitsätze)

 

Beim Kläger liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor.

Nach den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ist davon auszugehen, dass der Kläger auf Grund der unheilbaren chronischen Erkrankung Morbus Behcet einer ständigen medikamentösen Behandlung bedarf, die entsprechend der Krankheitsaktivität oder dem Auftreten von medikamentösen Nebenwirkungen angepasst werden muss. Hierzu ist ein engmaschiges laborchemisches und klinisches Monitoring nötig (vgl. ärztliche Bescheinigung des Universitätsklinikums Würzburg vom 07.12.2005).

Unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung eingeführten Erkenntnisquellen ist bereits fraglich, ob die erforderliche medizinische Versorgung im Falle des Klägers im Kosovo gewährleistet werden kann. Allerdings vertritt das Deutsche Verbindungsbüro Kosovo (vgl. Auskunft v. 21.09.2005 an das Bundesamt) die Auffassung, dass Morbus Behcet im Kosovo medizinisch behandelbar ist und die zur Behandlung erforderlichen Wirkstoffe/Medikamente erhältlich sind. Bei den Auskünften des Verbindungsbüros ist allerdings generell zu berücksichtigen, dass sie sich auf den jeweiligen medizinischen Einzelfall beziehen und die dort getroffenen Aussagen nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können (so zutreffend Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 45). Gerade auch im vorliegenden Fall ist die Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 21.09.2005 über die medizinische Behandelbarkeit von Morbus Behcet nicht zutreffend. Denn die vom Verbindungsbüro Kosovo benannten Wirkstoffe/Medikamente (Prednisolon/Decortin, Folsäure/Folsan, Methotrexat) sind nach der eindeutigen Aussage des Universitätsklinikums Würzburg (vgl. ärztliche Bescheinigung vom 07.12.2005) im Falle des Klägers nicht in der Lage, seine Krankheit unter Kontrolle zu halten. Beim Kläger ist vielmehr eine Kombinationstherapie mit Cyclosporin, Imurek und Colchicum notwendig, um ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung mit weiteren Komplikationen zu verhindern. Diesbezüglich führte die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 20.02.2006 aus, das Medikament Cyclosporin könne nach den Botschaftsberichten über private Apotheken im Ausland bestellt werden, das Medikament sei aber sehr teuer. Das Medikament Imurek sei im Kosovo erhältlich und hinsichtlich der Verfügbarkeit des Medikaments Colchicum seien der Beklagten keine Erkenntnisse bekannt. Die Botschaftsberichte des Auswärtigen Amtes (Verbindungsbüros) über die Verfügbarkeit bestimmter Medikamente können jedoch nicht verallgemeinert werden. Denn im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten; inwieweit Medikamente tatsächlich immer verfügbar sind, lässt sich nicht genau bestimmen und kann variieren (vgl. Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 43). Ob angesichts dieser Erkenntnislage die vom Kläger zur Behandlung seiner Krankheit benötigten Medikamente und die erforderliche ständige ärztliche Überwachung im Kosovo erhältlich sind, ist sehr zweifelhaft, braucht vorliegend jedoch nicht weiter aufgeklärt zu werden. Denn die notwendige medizinische Versorgung des Klägers im Kosovo ist jedenfalls in finanzieller Hinsicht ausgeschlossen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger die Kosten für die notwendige Behandlung und Medikation im Kosovo bezahlen könnte.

Ein Krankenversicherungssystem, das die notwendigen Kosten der medizinischen Behandlung des Klägers übernimmt, existiert im Kosovo noch nicht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Die medizinische Versorgungslage im Kosovo, 24.05.2004, S. 17). Der Kläger wäre somit im Kosovo völlig auf sich alleine gestellt. Ob der Kläger im Kosovo Sozialhilfe erhalten könnte, erscheint zweifelhaft, da Sozialhilfe nur bewilligt wird, wenn u. a. mindestens ein Kind im Haushalt jünger als fünf Jahre ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, aaO). Selbst wenn der Kläger im Kosovo aber Sozialhilfe erhielte, wäre er bzw. seine Familie nicht in der Lage, seine medizinische Versorgung zu gewährleisten. Die Sozialhilfeleistungen im Kosovo bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau; sie betragen für Einzelpersonen 35,-- EUR monatlich und für Familien (abhängig von der Zahl der Personen) bis zu 75,-- EUR monatlich und reichen damit als alleinige Einkommensquelle unter Berücksichtigung der lokalen Lebenshaltungskosten kaum zum Leben aus (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro - Kosovo - vom 22.11.2005). Da der Kläger für die Kosten der von ihm benötigten Medikamente unstreitig selbst aufkommen muss, wäre somit selbst bei Sozialhilfebezug die erforderliche Arzneimittelversorgung im Kosovo nicht sichergestellt, so dass ihm bei einer Rückkehr in den Kosovo eine konkrete erhebliche Gefahr für Leib und Leben drohen würde.

Dem Kläger droht wegen seiner Krankheit auch landesweit eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Er kann nicht darauf verwiesen werden, sich im übrigen Serbien und Montenegro (ohne Kosovo) behandeln zu lassen.

In Serbien und Montenegro ist der Zugang zu grundlegenden Rechten und sozialen Dienstleistungen (insbesondere Gesundheitsfürsorge und Sozialhilfe) von einer Anmeldung mit ständigem Wohnsitz bzw. einer Registrierung als Binnenvertriebener abhängig (vgl. UNHCR, Zur Situation von binnenvertriebenen Minderheiten, September 2004 und Stellungnahme vom 27.09.2005 an VG Stuttgart). Aus dem Kosovo stammende ethnische Albaner können in Serbien nicht als intern Umgesiedelte angemeldet werden, da davon ausgegangen wird, dass gegen eine Rückkehr dieses Personenkreises in die jeweiligen Heimatorte im Kosovo keine Sicherheitsbedenken bestehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24.05.2004 an VG Bremen). Mittellose Flüchtlinge aus dem Kosovo sind deshalb auf eine Registrierung als Binnenvertriebene angewiesen, die ihnen oftmals vorenthalten bzw. mit bürokratischen Mitteln erschwert wird (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 28.06.2006). In der Praxis ist im Falle der Rückkehr aus dem Ausland eine Registrierung nur in der Gemeinde des letzten Wohnsitzes möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft v. 21.10.2004 an VG Sigmaringen; OVG Lüneburg, Beschl. v. 03.11.2005 - 8 LA 322/04 - Juris -, = InfAuslR 2006, 63). Der aus dem Kosovo stammende Kläger hat somit nicht die Möglichkeit, sich als Flüchtling oder intern Umgesiedelter in Serbien oder Montenegro registrieren zu lassen, um über diesen Weg Krankenversicherungsschutz zu erhalten. Er wäre auch im übrigen Serbien und Montenegro hinsichtlich der Krankheitskosten folglich auf seine eigene finanzielle Leistungskraft angewiesen. Da er jedoch - wie bereits dargelegt - nicht über die Mittel verfügt, um seine notwendige medikamentöse Behandlung zu finanzieren, kann er auch nicht auf eine Behandlung außerhalb des Kosovo im übrigen Serbien und Montenegro verwiesen werden (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 28.09.2004 - 7 A 11060/03 -).