1. Eine Interessenabwägung (Folgenabwägung) in einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist geboten, wenn eine eingehende Klärung der Sach- und Rechtslage wegen der Notwendigkeit weiterer Aufklärungsmaßnahmen ausgeschlossen ist.
2. Eine ärztliche Bescheinigung, durch die eine psychische Erkrankung attestiert wird, gibt Gerichten nicht erst dann Anlass zur weiteren Sachaufklärung, wenn sie in jeder Hinsicht den an ein Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen genügt.
3. Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht schon mit der Erwägung ausgeschlossen werden, die geltend gemachten psychischen Störungen seien nicht schon in den ersten sechs Monaten nach dem erlittenen Trauma aufgetreten.
4. Aussagepsychologische Gutachten liegen außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren folglich Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie (Realkennzeichen, Konstanzanalyse, Aussageentstehung, Aussageentwicklung, Motivationsanalyse).
1. Eine Interessenabwägung (Folgenabwägung) in einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist geboten, wenn eine eingehende Klärung der Sach- und Rechtslage wegen der Notwendigkeit weiterer Aufklärungsmaßnahmen ausgeschlossen ist.
2. Eine ärztliche Bescheinigung, durch die eine psychische Erkrankung attestiert wird, gibt Gerichten nicht erst dann Anlass zur weiteren Sachaufklärung, wenn sie in jeder Hinsicht den an ein Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen genügt.
3. Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht schon mit der Erwägung ausgeschlossen werden, die geltend gemachten psychischen Störungen seien nicht schon in den ersten sechs Monaten nach dem erlittenen Trauma aufgetreten.
4. Aussagepsychologische Gutachten liegen außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren folglich Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie (Realkennzeichen, Konstanzanalyse, Aussageentstehung, Aussageentwicklung, Motivationsanalyse).
(Amtliche Leitsätze)
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und auch überwiegend begründet.
Es ist als offen anzusehen, ob der Antragstellerin zu 2 aufgrund der von ihr geltend gemachten persönlichen Schwierigkeiten, insbesondere gesundheitlicher Art, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG zur Seite steht, das ihre Abschiebung rechtlich unmöglich machen würde (§ 60a Abs. 2 AufenthG). Insoweit ist der Sachverhalt in entscheidungserheblichen Punkten noch ungeklärt. Die getroffene Anordnung ist in dieser Lage nötig, um wesentliche Nachteile von der Antragstellerin zu 2 abzuwenden. Erginge sie nicht, wäre die Antragstellerin zu 2 aufgrund der von ihr geltend gemachten Gesundheitsgefahren, denen sie im Falle der Abschiebung ausgesetzt wäre, möglicherweise schwerwiegenden und irreparablen Folgen für Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) ausgesetzt. Zwar ist der Eintritt dieser Folgen gegenwärtig nicht sicher absehbar, vielmehr ist das Bestehen einer Gefahr für Leib und Leben weiter aufzuklären. Dies führt dennoch zu keiner anderen Gewichtung, da die Rechtsgüter Leben und Gesundheit einen hohen Rang haben und ihre Beeinträchtigung schon bei einem einfachen Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts rechtlich erheblich ist. Der Nachteil, den auf der anderen Seite die Antragsgegnerin in der Folge der einstweiligen Anordnung zu tragen hat, wenn bei der Antragstellerin zu 2 tatsächlich kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, wiegt demgegenüber weniger schwer, zumal die Antragstellerin zu 2 offenkundig auf Unterstützung durch die öffentliche Hand (Sozialhilfe) nicht angewiesen ist.
Die Gerichte sind zu einer Interessenabwägung (Folgenabwägung) auch berechtigt und verpflichtet, wenn eine eingehende Klärung der Sach- und Rechtslage z. B. wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit oder wegen der Notwendigkeit weiterer Aufklärungsmaßnahmen ausgeschlossen ist (vgl. BVerfG, Beschl. vom 25.07.1996, NVwZ 1997, 479; OVG Hamburg, Beschl. vom 13.10.2000, NVwZ-Beilage I 2001, 31; OVG Weimar, Beschl. vom 15.11.2002, InfAuslR 2003, 144).
Nach derzeitiger Erkenntnislage kommt durchaus in Betracht, dass sich die Antragstellerin zu 2 auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG berufen kann.
Die Antragstellerin zu 2 leidet nach den von ihr vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen der Münsterklinik - Zentrum für Psychiatrie Zwiefalten - vom 25.11.2005 und vom 28.02.2006 an einer posttraumatischen Belastungsstörung, an einer depressiven Anpassungsstörung und an einer akuten Belastungsreaktion. (...) Eine erzwungene Rückkehr in den Kosovo hätte bei der Antragstellerin zu 2 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine psychische Dekompensation mit akuter Gefahr der Umsetzung des Suizids zur Folge.
Zwar ist eine ärztliche Stellungnahme/ein ärztliches Attest lediglich das schriftlich niedergelegte Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung. Bei den von der Antragstellerin zu 2 vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen der Münsterklinik handelt es sich somit nur um - auf ärztlicher Fachkunde beruhende - kurze klinische Einschätzungen, die zwangsläufig die Qualitätsstandards, die für die Begutachtung einer (behaupteten) Traumaschädigung aufgestellt wurden (vgl. hierzu Lindstedt in: Asylpraxis, Band 7, S. 97 ff.; Treiber, ZAR 2002, 282, 287; Wenk-Ansohn/Haenel/Birck/Weber, Einzelentscheider-Brief, Heft 8 und 9/2002, 3) nicht erfüllen können. Da die Diagnosen in den von der Antragstellerin zu 2 vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen der Münsterklinik auf tatsächlichen Feststellungen beruhen und diese ärztlichen Stellungnahmen erkennbar keine Formulierungen enthalten, die auf eine bloße Gefälligkeitsleistung hindeuten, sieht das Gericht hinreichenden Anlass zur weiteren Aufklärung (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001, NVwZ-Beilage I 2003, 41 = DVBl. 2002, 53). Eine ärztliche Bescheinigung, durch die eine psychische Erkrankung attestiert wird, gibt Behörden und Verwaltungsgerichten nicht erst dann Anlass zur weiteren Sachaufklärung, wenn sie in jeder Hinsicht den an ein zur Beweisführung geeignetes Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 24.01.2005, NVwZ-RR 2005, 507).
Entgegen der Auffassung der Landeshauptstadt Stuttgart (vgl. die in der Behördenakte enthaltene Stellungnahme vom 10.04.2006) kann das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht schon mit der Erwägung ausgeschlossen werden, die geltend gemachten psychischen Störungen seien nicht schon in den ersten sechs Monaten nach dem erlittenen Trauma aufgetreten; da sie erst in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der drohenden Abschiebung geltend gemacht worden seien, sei lediglich vom Vorliegen einer akuten Belastungsreaktion bzw. einer Anpassungsstörung auszugehen. Mit dieser Einschätzung verkennt die Antragsgegnerin, dass die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auftritt. Diese Zeitspanne wird in der ICD 10 für F 43.1 und in DSM IV nur als häufigste Latenz angegeben, wobei aber auf Ausnahmen hingewiesen wird (vgl. auch Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53). Im Übrigen gibt es die unterschiedlichsten Gründe, warum in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren erst im Nachhinein gegenüber Behörden oder Gerichten eine mögliche Traumatisierung und psychisch-reaktive Traumafolgen geltend gemacht werden. So werden vielfach Angaben über Traumatisierung und Foltererfahrung erst im Nachhinein aus Scham und Schuldgefühlen gemacht, besonders bei muslimischen Frauen infolge sexualisierter Traumatisierung und Folter, häufig in ausweglosen Situationen, in denen der Ehrverlust als geringeres Übel in Kauf genommen wird (vgl. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
Die Landeshauptstadt Stuttgart ist nach dem Inhalt ihrer Stellungnahme vom 10.04.2006 des Weiteren der Auffassung, bei den ärztlichen Stellungnahmen der Münsterklinik fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen der Landeshauptstadt Stuttgart deutet darauf hin, dass sie den Unterschied zwischen aussagepsychologischem und klinischem Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren folglich Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Realkennzeichen, Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Gierlichs u. a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, 158; Wenk-Ansohn u. a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3).