VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 - asyl.net: M8382
https://www.asyl.net/rsdb/M8382
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Arbeitnehmer, Familienangehörige, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, in Deutschland geborene Kinder, Widerspruchsverfahren, Verfahrensrecht, Anwendungszeitpunkt, dringender Fall, Haft, Verfahrensmangel, Unbeachtlichkeit
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2; VwVfG § 46
Auszüge:

Der angefochtene und über den 31.12.2004 hinaus wirksam gebliebene (§ 102 Abs. 1 S. 1 AufenthG) Bescheid verstößt gegen hier anwendbares gemeinschaftsrechtliches Verfahrensrecht. Vorliegend kommt die Richtlinie Nr. 64/221/EWG (im Folgenden: RL 64/221/EWG) vom 25.02.1964 des Rats der EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. S. 850) zur Anwendung. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, DVBl. 2005, 119 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26) können in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C 493/01 -, DVBl. 2004, 876 = InfAuslR 2004, 268) zur Ausweisung von Unionsbürgern türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei (im Folgenden: ARB 1/80) besitzen, nur nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Der Kläger ist nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 assoziationsberechtigt. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 findet auch auf - wie hier - in Deutschland geborene Kinder eines türkischen Arbeitnehmers Anwendung (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - Rs. C-467/02 -, DVBl. 2005, 103 = InfAuslR 2005, 13). Der Kläger hat seine Rechte aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 auch nicht durch die Verurteilung mit Urteil des Landgerichts XXX vom 17.09.2004 zu einer viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe und die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verloren (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004, a.a.O.).

Die europarechtlichen Verfahrensgarantien aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005 - Rs. C-136/03 -, DVBl. 2005, 1437 = InfAuslR 2005, 289; BVerwG, Urte. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 - u. v. 06.10.2005 - 1 C 5.04 -).

Dass diese Richtlinie mit Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158/77) am 30.04.2006 außer Kraft tritt (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) und nach Art. 31 RL 2004/38/EG die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht mehr vorgesehen ist, führt nicht dazu, dass bereits jetzt - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aufgrund einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/38/EG von der Nichtanwendbarkeit des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auszugehen ist. Dem steht der eindeutige Wortlaut des Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG entgegen. Unabhängig hiervon ist ohnehin im Ausländer- und Asylrecht vor Ablauf der Umsetzungsfrist (hier: 30.04.2006, vgl. Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38/EG) bzw. - wenn zuvor erfolgt - Verkündung des Umsetzungsgesetzes regelmäßig keine vom Instanzrichter beachtliche Vorwirkung von EG-Richtlinien anzunehmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -, AuAS 2005, 163 = InfAuslR 2005, 296 = VBlBW 2005, 303; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 13.07.2005 - 1 LA 68/05 -, AuAS 2005, 262; jew. zur sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, ABl. L 304/12).

Findet die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle ("Vier-Augen-Prinzip") nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein "dringender Fall" vor. Ein solcher Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.). Eine Nachprüfung der angefochtenen Ausweisungsverfügung ist hier vor Erhebung der Klage nicht erfolgt.

Von der geforderten Nachprüfung der verfügten Ausweisung konnte mangels eines "dringenden Falles" nicht abgesehen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat im genannten Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) nicht ausdrücklich entschieden, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung maßgebend ist, ob ein "dringender Fall" vorliegt. Auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschl. v. 19.01.2006 - 13 S 1207/05 -) lässt sich dies nicht entnehmen. Die Zeitform der Gegenwart im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG ("... trifft die Verwaltungsbehörde ...") spricht dafür, dass der Zeitpunkt der (letzten) behördlichen Entscheidung maßgebend ist. Hiervon dürfte auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) ausgegangen sein. Es führt aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, "... wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO)" (vgl. den ersten Satz in RdNr. 13 des amtlichen Urteilsabdrucks, die Ausführungen in dieser Randnummer enden im letzten Satz mit der Feststellung eines unheilbar rechtwidrigen Verfahrensfehlers; das Wort "unheilbar" findet dagegen im amtlichen Leitsatz 2 des Urteils keinen Niederschlag: "... wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig ..."). Die weiteren Ausführungen an anderer Stelle im genannten Urteil (RdNr. 18) lassen aber auch die Deutung zu, für die Frage des Vorliegens eines "dringenden Falles" dürften auch noch Umstände herangezogen werden, die nach Erlass der (letzten) Behördenentscheidung eingetreten sind. Denn das Bundesverwaltungsgericht führt im ersten Satz der RdNr. 18 aus, ein "dringender Fall" sei nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt wird. Für eine Deutung in diesem Sinne sprechen auch die weiteren Ausführungen in RdNr. 19 (letzter Satz) des Urteils. Hiernach scheidet die Annahme eines "dringenden Falles" dann aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordnet oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch macht. Das Bundesverwaltungsgericht ermöglicht mit dieser Erwägung die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (sei sie zugleich mit der Ausweisung erfolgt oder erst später angeordnet worden) unter Einbeziehung gerichtlicher Erkenntnisse ("gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung", letzter Satz in RdNr. 19). Eine derartige zeitliche Reichweite zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs "dringender Fall" und damit der Frage, ob ein weiteres "behördliches Augenpaar" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG die getroffene behördliche Ausgangsentscheidung zu kontrollieren hat, erscheint im Hinblick auf eine wünschenswerte klare Abgrenzung des Verwaltungsverfahrens und des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens bedenklich.

Im vorliegenden Fall kann letztlich offen bleiben, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich der Frage, ob ein "dringender Fall" vorliegt, abzustellen ist. Ein solcher Fall liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn von dem Ausländer wegen seiner Inhaftierung keine (schwere) Gefahr ausgeht. Im Falle der Inhaftierung kommt ein "dringender Fall" nur dann in Frage, wenn der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.).

§ 46 LVwVfG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren unbeachtlich ist, findet auf den hier vorliegenden Fehler des formellen Gemeinschaftsrechts keine Anwendung (das BVerwG hat diese Frage in den Urte. v. 13.09.2005 u. 06.10.2005, a.a.O., nicht aufgeworfen, desgleichen nicht der VGH Bad.-Württ. im Beschl. v. 19.01.2006, a.a.O.). Diese Vorschrift erfasst nicht sogenannte absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts (vgl. Wolff/Decker, VwGO/VwVfG - Studienkommentar -, 2005, § 46 VwVfG RdNr. 9). Ein absolutes Verfahrensrecht liegt vor, wenn die verfahrensrechtliche Bestimmung nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs, insbesondere einer umfassenden Information der Verwaltungsbehörde dient, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren will (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325, 331 f. = NJW 1982, 1546; Wolff/Decker, a.a.O., § 42 VwGO RdNr. 107). Absolute Verfahrensvorschriften wollen dem Berechtigten die Möglichkeit geben, die Aufhebung der Sachentscheidung allein wegen der Verletzung der Verfahrensvorschrift zu verlangen. Die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf vorrangigem Gemeinschaftsrecht beruhen, werden nach ganz herrschender Meinung wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt.