VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 24.05.2006 - 5 K 1970/06.A - asyl.net: M8397
https://www.asyl.net/rsdb/M8397
Leitsatz:

Posttraumatische Belastungsstörung ist in Armenien kostenlos behandelbar; mittellose Kranke können eine Bevölkerungsgruppe gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG darstellen.

 

Schlagwörter: Armenien, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliches Gutachten, Mindeststandards, Glaubhaftmachung, Sachaufklärungspflicht, Sachverständigengutachten, Glaubwürdigkeit, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Posttraumatische Belastungsstörung ist in Armenien kostenlos behandelbar; mittellose Kranke können eine Bevölkerungsgruppe gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG darstellen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Bei der Klägerin ist insbesondere kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ersichtlich.

II. Ungeachtet dessen kann - wie bereits in den beiden im Rahmen des Eilverfahrens getroffenen Beschlüssen des VG Gelsenkirchen (12a L 278/03.A, 12a L 635/04.A) dargelegt - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung (im Folgenden: PTBS) mit der Gefahr einer Retraumatisierung im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland leidet. Die zum Nachweis einer solchen Erkrankung dem Gericht vorgelegten fünf "ärztlichen Bescheinigungen" ... genügen nicht den wissenschaftlichen Mindestanforderungen an ein PTBS feststellendes ärztliches Gutachten.

Bei der "posttraumatischen Belastungsstörung" handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Nach den international anerkannten Qualitätsstandards, wie sie insbesondere im Standard ICD-10 (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der Weltgesundheitsorganisation oder dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association festgelegt sind, entsteht eine als PTBS bezeichnete Erkrankung durch eine verzögerte protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweifelung hervorrufen würde (vgl. ICD-10 Kap. V, Ziff. F43.1; DSM-IV Ziff. 309.81). Angesichts der Eigenart der PTBS als einer schweren psychischen Erkrankung ist sie nicht allein auf Grund äußerlich feststellbarer objektiver Befundtatsachen zu diagnostizieren. Als inner-psychisches Erlebnis entzieht es sich vielmehr äußerlich-objektiver Befundtatsachen weitgehend. Entscheidend kommt es deshalb auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebens und der zu Grunde liegenden faktischen Erlebnistatsachen an.

Es bestehen demgemäss entsprechende Anforderungen an das ärztliche Vorgehen, die ärztliche Diagnostik und die ärztliche Therapie, welche von vornherein grundsätzlich nur Fachärzte für Psychiatrie oder Fachärzte für Psychotherapeutische Medizin erfüllen können. Das bedeutet indes nicht, dass die gestellte ärztliche Diagnose daher einer gerichtlichen Kontrolle entzogen wäre. Vielmehr kann sie nur dann Grundlage der Rechtsanwendung werden, wenn ihre Richtigkeit nach der freien, aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung des Gerichts feststeht (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Mithin sind ärztliche Atteste mit dem gerichtlichen Sachverstand auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Dies gilt in besonderem Maße für die Diagnose solcher Krankheitsbilder - wie der PTBS -, deren Symptome sich der Natur der Sache nach nur schwer objektiv verifizieren lassen und nicht immer eindeutig auf eine bestimmte Erkrankung hinweisen. Gerade sie eröffnen damit die Möglichkeit, sich gegenüber Ärzten missbräuchlich auf bestimmte Ursachen oder Krankheitssymptome zu berufen und damit auf die vermeintliche Existenz einer aus ihr ableitbaren Erkrankung. Einer besonders engmaschigen Plausibilitätskontrolle ist daher die Feststellung der PTBS zu unterziehen, da gerade ihre Symptome fachwissenschaftlich nur eingeschränkt objektivierbar sind.

Die Komplexität und Schwierigkeit des zu behandelnden psychosomatischen Krankheitsbildes PTBS erfordert daher zunächst einen längeren Zeitraum der Befassung des Arztes mit dem Patienten, da tragfähige Aussagen zur Traumatisierung regelmäßig erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich sind. Im Anschluss daran ist ein detailliertes Gutachten vorzulegen, welches anhand der Kriterien des ICD-10 nachvollziehbare Aussagen über Ursachen und Auswirkungen der posttraumatischen Belastungsstörung sowie diagnostische Feststellungen zum weiteren Verlauf der Behandlung enthält. Die Befundtatsachen müssen zunächst getrennt von ihrer Interpretation dargestellt werden. Bei Interpretationen und Schlussfolgerungen aus den erhobenen Informationen muss angegeben werden, auf welche Befundtatsachen sie sich stützen. Erforderlich ist auch eine Verschriftlichung des Explorationstextes, da nur auf dieser Grundlage eine sorgfältige inhaltsanalytische Bearbeitung möglich ist. Wesentlicher Bestandteil der Begutachtung ist weiterhin die inhaltliche Analyse der vom Arzt selbst erhobenen Aussage in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen. Diese Aussageanalyse darf nicht schematisch erfolgen, etwa in dem Sinne, dass eine bestimmte Anzahl festgestellter Glaubhaftigkeitsmerkmale schon den Schluss auf eine glaubhafte Aussage zulasse. Vielmehr muss die Ausprägung der Glaubhaftigkeitsmerkmale in einer Aussage in Bezug gesetzt werden zu den individuellen Fähigkeiten und Eigenarten eines Patienten.

Es muss zudem eine Konstanzanalyse stattfinden. Sie bezieht sich auf den Vergleich von Aussagen, die ein Patient zu verschiedenen Zeitpunkten über denselben Sachverhalt gemacht hat. Beim Vergleich müssen im Einzelnen Übereinstimmungen zwischen den Aussagen ebenso wie Widersprüche, Auslassungen und Ergänzungen festgestellt werden. Abweichungen zwischen den Aussagen müssen daraufhin geprüft werden, ob sie sich auf Grund gedächtnispsychologischer Erkenntnisse auch dann erwarten ließen, wenn die Aussage erlebnisfundiert ist.

Mit der Kompetenzanalyse wird das Niveau der für eine Aussage relevanten kognitiven Funktion eines Patienten erfasst. Zu berücksichtigen ist die allgemeine und sprachliche intellektuelle Leistungsfähigkeit, das autobiographische Gedächtnis, die Phantasieleistung sowie der persönliche Darstellungsstil eines Patienten. Erst wenn die Leistungsfähigkeit in diesen Bereichen bekannt ist, kann die Qualität einer Aussage angemessen beurteilt werden, wobei die Klärung der Aussageentstehung und Aussageentwicklung ein weiterer wichtiger Bestandteil der Begutachtung.

Bei der Motivationsanalyse geht es schließlich darum, zu rekonstruieren, welche Motivation den Patienten zu seinem Vorbringen veranlasst hat. Wesentlich sind dabei methodische Vorkehrungen zur Verhinderung interessengeleiteter Aussagen und Angaben des Patienten im Hinblick auf einen weiteren Aufenthalt in Deutschland.

Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen genügen den dargelegten Anforderungen an die Feststellung einer PTBS nicht.

Schließlich brauchte die Kammer auch nicht von Amts wegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten zur Traumatisierung und zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Klägerin einzuholen. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers und etwaiger Zeugen gehört zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung. Auch in schwierigen Fällen ist der Richter daher berechtigt und verpflichtet, den Beweiswert einer Aussage selbst zu würdigen. Er hat in eigener Verantwortung festzustellen, ob der Asylbewerber und etwa gehörte Zeugen glaubwürdig und ihre Darlegungen glaubhaft sind. Ob sich das Gericht dabei der sachverständigen Hilfe bedienen will, hat es nach pflichtgemäßen Ermessen selbst zu entscheiden. Dabei liegt in aller Regel kein Ermessensfehler vor, wenn das Gericht sich die zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung notwendige Sachkunde selbst zutraut. Etwas anderes wird nur dann gelten können, wenn im Verfahren besondere Umstände in der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen hervortreten, die in erheblicher Weise von den Normalfällen abweichen und es deshalb geboten erscheinen lassen können, die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18. Juli 2001 - 1 B 118/01, DVBl. 2002, 53f. m.w.N.; RhPf-VerfGH, Beschl. v. 28. Februar 2003 - VGH B 27/02, NVwZ, Beil I 7/2003, 49f.).

III. Sofern ungeachtet der obigen Feststellungen davon ausgegangen würde, dass die Klägerin unter einer PTBS sowie einer - ggf. nicht auf einem traumatischen Ereignis beruhenden - schweren Depression leiden würde, sind diese Krankheiten bei Rückkehr nach Armenien ohne weiteres behandelbar, so dass ihr keine der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschriebenen Gefahren drohen. Die medizinische Behandlung ist in Armenien grundsätzlich flächendeckend gewährleistet. Die Behandlung von Patienten mit PTBS und depressiven Erkrankungen kann ebenfalls flächendeckend durchgeführt werden. Das Personal der entsprechenden Kliniken ist gut ausgebildet und verfügt u.a. auf Grund der Erdbebenkatastrophen und des Berg-Karabach Konfliktes über große Erfahrungen gerade im Umgang mit PTBS, Depressionen sowie Suizidgefahr. Ebenso sind geschlossene Einrichtungen für psychisch Kranke vorhanden. Darüber hinaus gibt es in Eriwan eine von einer Nichtregierungsorganisation geführte betreute Tageseinrichtung, in der u.a. eine medizinische Betreuung erfolgt.

Gut ausgebildete Fachärzte haben sich oftmals in den großen Städten, insbesondere der Hauptstadt Eriwan niedergelassen. Die zur Behandlung notwendigen Psychopharmaka können im Pharmazien gegen Rezept bezogen werden. Neuroleptika, Antidepressiva bzw. Medikamente mit wirkungsgleichen Inhaltstoffen sind in Armenien erhältlich (vgl. zum Ganzen: Auskunft der dt. Botschaft v. 25. Juli 2005, v. 13. März 2002, v. 26. Juli 2001; Auskunft des Auswärtiges Amtes vom 05. Januar 2005 u. v. 28. Juli 2001; Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 02. Februar 2006, S. 23ff.).

IV. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Klägerin i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestünde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch nicht im Falle einer finanziellen Unmöglichkeit der Klägerin, eine medizinische Behandlung in Armenien zu bezahlen.

Selbst wenn die Klägerin aber völlig mittellos wäre, käme sie in Armenien in den Genuss einer kostenlosen Behandlung und müsste nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Gefährdung der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezeichneten Rechtsgüter befürchten. Denn die medizinische Behandlung ist in Armenien für sozial bedürftige Gruppen kostenlos. Die kostenlose medizinische Versorgung ist durch Gesetz kodifiziert. Durch dieses wird der Umfang der kostenlosen ambulanten oder stationären Behandlung bei bestimmten Krankheiten und Medikamenten sowie zusätzlich für bestimmte sozial bedürftiger Gruppen (z.B.: sozial Schwache, Behinderte, Invaliden) festgelegt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 02. Februar 2006, S. 23ff.).

Nach der Auskunftslage fallen auch psychische Erkrankungen (z.B. Depressionen, PTBS, Neurosen, Epilepsie) hierunter und werden jedenfalls in den akuten Phasen der Erkrankung kostenlos behandelt (vgl. Auskunft der dt. Botschaft v. 25. Juli 2005, v. 13. März 2002, v. 22. Januar 2002, v. 26. Juli 2001; Auskunft des Auswärtiges Amtes vom 05. Januar 2005 u. v. 28. Juli 2001).

V. Ungeachtet der Frage einer kostenlosen Behandlung der vermeintlichen Erkrankung der Klägerin, ist ihr zudem die Berufung auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf Grund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG versagt. Insoweit hätte die Klägerin selbst dann keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sie allein mangels ausreichender finanzieller Mittel keine Möglichkeit hätte, eine erforderliche Behandlung zu erlangen.

Denn die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG "gesperrt", da die Gefahr einer aus finanziellen Gründen nicht ausreichenden medizinischen Versorgung grundsätzlich der gesamten Bevölkerungsgruppe der mittellosen Kranken in Armenien allgemein droht, d.h. derjenigen, die dort die erforderlichen Behandlungskosten für ihre Krankheit nicht aufbringen können. Die derart verstandene (nach sozialen Merkmalen bestimmten) Gruppe bildet - ungeachtet der Frage, wie umfangreich die Gruppe der psychisch Kranken in Armenien ist - eine eigene Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (vgl. - zur Gruppe, die aus finanziellen Gründen beschränkten Zugang zu einer Heilbehandlung hat - BVerwG, Beschl. v. 29. April 2002 - 1 B 59/02; BVerwG Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; VGH München, Beschl. v. 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077; OVG S-H, Urt. v. 29. Oktober 2003 - 14 A 246/02).

In dieser wirtschaftlichen und sozialen Situation im Heimatland der Klägerin, ist festzustellen, dass die Gefahr, notwendige medizinische Hilfe aus finanziellen Gründen nicht in Anspruch nehmen zu können, bei einem nennenswert großen Teil der dortigen Bevölkerung - nämlich der (nach sozialen Merkmalen bestimmten) Bevölkerungsgruppe der Kranken, die ihre erforderliche medizinische Behandlung mangels Finanzkraft nicht erlangen können - in gleicher Weise besteht. Denn die mit einer solchen Situation typischerweise verbundenen Mangelerscheinungen, wie etwa Obdachlosigkeit, Unterernährung oder unzureichende medizinische Versorgung drohen grundsätzlich der benannten Bevölkerungsgruppe allgemein. Da diese Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zugleich eine Vielzahl weiterer Personen in Armenien betrifft, ist für die mittellosen Klägerin der Anspruch des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG "gesperrt". Ein Abschiebungsschutz kann ihr insoweit nur über eine - hier nicht getroffene - politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder ausnahmsweise im Einzelfall bei einer extremen Gefahr gewährt werden.

Für eine extreme Gefahrenlage bestehen im Falle der Klägerin indes keinerlei Anhaltspunkte.