VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2006 - 11 S 1066/05 - asyl.net: M8452
https://www.asyl.net/rsdb/M8452
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Widerruf, Aufenthaltserlaubnis, Asylberechtigte, Ermessen, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Abschiebungshindernis, Kinder, Eltern, Bundesamt, Ausländerbehörde, Bindungswirkung
Normen: AuslG § 43 Abs. 1 Nr. 4; AuslG § 55 Abs. 2; AufenthG § 60a Abs. 3; AsylVfG § 42 S. 1
Auszüge:

Die Widerrufsverfügung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

I. Die Tatbestandsvoraussetzungen des - bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens geltenden und daher hier anzuwendenden - § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG für den Widerruf der dem Kläger asylbezogen nach § 68 Abs. 1 AsylVfG a.F. erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis lagen beim Kläger unstreitig vor.

II. Der Beklagte hat entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch das ihm eingeräumte Widerrufsermessen fehlerfrei in einer dem Zweck der Ermächtigung in § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG entsprechenden Weise ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO). Er hat alle im Fall des Klägers relevanten öffentlichen und privaten Belange erhoben und sie ohne Verkennung ihres tatsächlichen und rechtlichen Gewichts sowie in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Rechtsprechung sachgerecht in seine Abwägung eingestellt und auch das Abwägungs- und Entscheidungsergebnis ist nicht zu beanstanden.

1. Der Beklagte hat zunächst richtig erkannt, dass ein Widerruf wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) dann von vornherein nicht in Betracht kommt - das Widerrufsermessen mithin auf ein Widerrufsverbot beschränkt ist -, wenn der Ausländer unabhängig von seiner (entfallenen) Asylberechtigung einen Anspruch auf ein dem entzogenen Recht gleichwertiges Aufenthaltsrecht hat, sei es, dass ihm ein solches Aufenthaltsrecht schon bei Zuerkennung der Asylberechtigung zustand und lediglich überlagert war oder dass ihm jedenfalls im Zeitpunkt des Widerrufs ein Anspruch auf ein solches Aufenthaltsrecht aus anderen - asylunabhängigen - Rechtsgründen zusteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2003 - 1 C 13.02 -, NVwZ 2003, 1275 ff. = InfAuslR 2003, 324 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.1996 - 13 S 2408/95 -, EzAR 214 Nr. 5; ebenso OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18.09.2000 - 1 M 2888/00 -, Juris). Ein solcher Fall war beim Kläger aber nicht gegeben.

2. Ermessensfehler zu Lasten des Klägers sind dem Beklagten im Ergebnis auch insofern nicht unterlaufen, als er sich mit der Frage befasst - und diese verneint - hat, ob dem Kläger im maßgeblichen Widerrufszeitpunkt ein Anspruch auf ein gegenüber der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis geringerwertiges Aufenthaltsrecht zustand.

Dieser weite Prüfungsansatz dürfte im vorliegenden Fall entbehrlich gewesen sein. Gegenstand ist nicht der Widerruf einer befristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer befristeten Aufenthaltsbefugnis, wie sie anerkannten Konventionsflüchtlingen erteilt wurde (§ 70 AsylVfG a.F.), sondern der Widerruf einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis aufgrund von § 68 AsylVfG a.F. Prüfprogramm der Ermessensentscheidung ist in diesem Fall die Frage, ob es gerechtfertigt ist, dem Ausländer den asylbedingt erteilten unbefristeten - hochwertigen - Aufenthaltstitel zu belassen oder ob dieser Titel zu entziehen ist. Eine Zwischenlösung gibt es nicht. Denn der Gegenstand des Widerrufs ist nicht teilbar, der Widerruf kann nicht auf einen die Befristung der Aufenthaltserlaubnis oder die Aufenthaltsbefugnis übersteigenden weitergehenden Teil beschränkt werden (so zutreffend VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.1996 - 13 S 2408/95 -, EzAR 214 Nr. 5). Die Frage, ob dem Kläger statt der bisher unbefristeten Aufenthaltserlaubnis möglicherweise ein befristetes Aufenthaltsrecht etwa zum Familiennachzug oder aus anderweitigen humanitären Gründen zustand, hatte daher nur für die Entscheidung Bedeutung, ob man ihm deswegen den (überschießenden) unbefristeten Aufenthaltstitel belassen oder diesen entziehen und den befristeten Aufenhaltstitel neu erteilten wollte. Im Ergebnis hat das Regierungspräsidium diese Frage zutreffend beantwortet.

3. Auch im Übrigen vermag der Senat Ermessensfehler nicht zu erkennen.

a) Der Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich auch eine Beendigung des darauf beruhenden Aufenthaltsrechts nach sich zieht und dass daher in den Fällen des § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse am Widerruf der Aufenthaltsgenehmigung besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2003 a.a.O., VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10.11.2005 - 11 S 650/05 -, Juris). Trotz dieses - gewichtigen - öffentlichen Interesses an der Beendigung des spezifisch asylbedingten Aufenthaltstitels ist der Ausländerbehörde freilich ein weiter Ermessensspielraum eröffnet. Hierbei hat sie unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls eine Abwägung mit den schutzwürdigen prüfungsrelevanten Belangen des Ausländers am weiteren Verbleib in Deutschland vorzunehmen, wie sie beispielhaft für die Aufenthaltsbeendigung durch Ermessensausweisung in § 45 Abs. 2 AuslG (heute: § 55 Abs. 3 AufenthG) aufgeführt sind. Hierzu gehören nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG (= § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) vor allem die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2003 a.a.O.). Diesen ist im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung das öffentliche Interesse am Verlust des asylbedingten Aufenthaltstitels gegenüber zu stellen. Hat der Ausländer dabei einen Anspruch auf einen geringerwertigen Aufenthaltstitel, wird es in aller Regel verhältnismäßig (angemessen) sein, ihm den überschießenden Titel zu entziehen und ihn auf den neuen Titel zu verweisen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind des weiteren auch die in § 45 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AuslG (= § 55 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 AufenthG) genannten Belange ihrer tatsächlichen und rechtlichen Bedeutung gemäß in den Blick zu nehmen. Die Behörde muss sich daher im Einzelfall bei Bedarf auch mit den Folgen einer Aufenthaltsbeendigung für die ich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden und mit dem Ausländer in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Familienangehörigen auseinandersetzen sowie auf etwaige Duldungsgründe nach § 55 Abs. 2 AuslG (§ 60a Abs. 2 AufenthG) in Form rechtlicher oder tatsächlicher Abschiebungshindernisse eingehen.

Zu den Abschiebungshindernissen nach § 55 Abs. 2 AuslG bzw. § 60a AufenthG gehören sowohl solche, die ihren Anlass im Inland haben (inlandsbezogene Abschiebungshindernisse - insofern wird häufig Deckungsgleichheit mit schutzwürdigen Belangen nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG vorliegen -) als auch solche, die sich außerhalb des Bundesgebiets im Herkunftsland bzw Abschiebezielstaat auswirken (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, zur Unterscheidung vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, NVwZ 1998, 526 ff.; = VBlBW 1998, 216 f.; Urteil vom 21.09.1999 - 9 C 12.90 -, BVerwGE 109, 305 ff.; VGH Bad.-Württ., .Beschluss vom 10.07.2003 - 11 S 2611/02 -, VBlBW 2003, 482 sowie Urteil vom 21.06.2004 - 11 S 770/04 -, InfAuslR 2004, 429 ff.).

Bei den zielstaatsbezogenen rechtlichen Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (= § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) kommt allerdings der besondere Zusammenhang mit dem früheren Asylverfahren und die Abgrenzung der Entscheidungskompetenzen zwischen dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) und den Ausländerbehörden zum Tragen. Mit Stellung des Asylantrags wird nach §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG die Zuständigkeit und die Pflicht des Bundesamts zur Entscheidung auch über das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (§ 60a Abs. 2 bis 7 AufenthG) begründet.

Diese Entscheidung kann nach § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG zwar unterbleiben, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt wird oder die Voraussetzungen des 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) festgestellt werden. Sie muss jedoch nachgeholt werden, wenn die Asylanerkennung oder der Flüchtlingsstatus enden (vgl. etwa §§ 32 und 39 Abs. 2 AsylVfG). Hieraus folgt, dass das Bundesamt berechtigt, aber auch und verpflichte ist, Statusentscheidungen über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (§ 60 Abs. 2-7) AufenthG erstmals zusammen mit dem Widerruf einer Asylanerkennung oder der Flüchtlingseigenschaft nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG (§ 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) zu treffen; denn es soll nicht offen blieben, ob und in welcher Form dem Ausländer Abschiebungsschutz gewährt wird (sog. Vollständigkeitsprinzip, vgl. BVerwG, Urteil vom 20.04.1999 - 9 C 29.98 -, InfAuslR 1999, 373). An die hierbei getroffene - positive wie negative - Statusfeststellung des Bundesamts ist die Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 AsylVfG strikt gebunden. Hat das Bundesamt die Statusfeststellung unterlassen, so ergibt sich aus § 42 Satz 1 AsylVfG anstelle der Bindungswirkung eine Sperrwirkung; die Ausländerbehörden dürfen in diesem Unterlassensfall nicht in das beim Bundesamt bestehende Entscheidungsvakuum eindringen; sie haben zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse daher aus ihrem Prüfprogramm auszuklammern (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.10.2004 - 11 S 1448/03 -, Juris, m.w.N.; zum neuen Recht vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.04.2005 - 11 S 2779/04 -, Juris).

Die aus § 42 Satz 1 AsylVfG folgende Bindungs- bzw. Sperrwirkung gilt für alle denkbaren Entscheidungen der Ausländerbehörden, in denen es rechtlich unmittelbar oder auch nur mittelbar auf das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG/§ 60a Abs. 2-7 AufenthG ankommt, mithin nicht nur für Entscheidungen über die Gewährung eines Aufenthalts- oder Bleiberechts aufgrund des Abschiebungshindernisses, sondern auch für Entscheidungen über die Aufenthaltsbeendigung, in denen solche Abschiebungshindernisse - als Duldungsgründe - in das Ermessen einzustellen sind. Dies ist für die Entscheidung über eine Ausweisung anerkannt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.05.2003 - 13 S 1113/02 -, VBlBW 2003, 486 f.) gilt in gleicher Weise aber auch für die hier in Rede stehende Entscheidung über den Widerruf eines asylbezogenen Aufenthaltstitels nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG (§ 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Die Sperrwirkung greift in all diesen Fällen solange, bis das Bundesamts die geforderte Statusentscheidung nach § 53 AuslG (§ 60 Abs. 2-7 AufenthG) getroffen hat. Ist dies in der asylrechtlichen Widerrufsentscheidung geschehen, setzt die Bindungswirkung ein mit der Folge, dass die Ausländerbehörde bei positiver Feststellung von einem Duldungsgrund nach § 55 Abs. 2 AuslG ausgehen muss (bei Feststellungen nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG) bzw. ausgehen soll (bei Feststellungen nach § 53 Abs. 6 AuslG). Diese bindenden Feststellungen sind in das Widerrufsermessens einzustellen und die Behörde hat dann zu prüfen, ob sie deswegen vom Widerruf gänzlich absehen oder sich auf die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG bzw. auf eine Aufenthaltsbefugnis etwa nach § 30 Abs. 3 AuslG beschränken will. Entsprechendes gilt nach heutigem Recht: Die Ausländerbehörde hat im Rahmen ihres Ermessens ebenfalls zu prüfen, ob sie dem Ausländer den überschießenden Aufenthaltstitel belässt oder ob sie ihn widerruft und dem Ausländer "nur" eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt oder sie sich gar nur mit der Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 i.V.m. § 60 Abs. 2-7 AufenthG begnügen darf. Hat das Bundesamt negativ über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (§ 60 Abs. 2-7 AufenthG) entschieden, dürfen die Ausländerbehörden derartige - auch nachgeschobene, mit einem neuen Sachverhalt begründete - Abschiebungshindernisse ausnahmslos nicht berücksichtigen, sondern müssen davon ausgehen, dass solche Abschiebungshindernisse nicht bestehen. Die Ausländer sind insoweit auf einen isolierten Wiederaufgreifensantrag beim Bundesamt (sog. Folgeschutzgesuch) zu verweisen (vgl. zu dieser Möglichkeit BVerwG, Urteil vom 21.03.2000 - 9 C 41.99 -, BVerwGE 111, 77 ff. = NVwZ 2000, 940 f.; VGH Bad.-Württ., vom 13.09.2000 - 11 S 988/00 -, NVwZ 2001, 151 ff.) und haben diesem gegenüber gegebenenfalls auch einstweiligen Rechtsschutz zu suchen.

b) Gemessen an diesen Vorgaben sind die Ermessenserwägungen des Beklagten nicht zu beanstanden.

Der Senat verkennt nicht, dass die Aufenthaltsbeendigung in Deutschland und die Rückkehr in das Kosovo gleichwohl für den Kläger und seine Familie Nachteile mit sich bringen, da sie im dortigen Kulturkreis nicht bzw. nicht mehr fest verwurzelt sind und dem hiesigen Kulturkreis inzwischen näher stehen. Derartige sich aus den allgemein unterschiedlichen Lebensverhältnissen und unterschiedlichen Sozialstandards in Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsstaat ergebenden Rückkehrerschwernisse sind in ausländerrechtlichen Verfahren, wie dem Kläger zuzugeben ist, auch ohne Rücksicht auf die Entscheidungslage beim Bundesamt berücksichtigungsfähig. Sie sind im Rahmen der schutzwürdigen Belange nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG (§ 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) als Parameter für "sonstige" (kulturelle und/oder soziale) "Bindungen im Bundesgebiet" zu prüfen und unterfallen nicht der Bindungswirkung nach § 42 Satz 1 AsylVfG, da sie wesentlichen Inlandsbezug haben, jedenfalls aber mit den typischen Streitgegenständen (Lebenssachverhalten) bei zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (= § 60 Abs. 2-7 AufenthG) nichts zu tun haben.

Dieser Vortrag war daher zu berücksichtigen, ohne dass ihm freilich entscheidendes Gewicht zukam.