OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 22.06.2006 - 2 R 12/05 - asyl.net: M8459
https://www.asyl.net/rsdb/M8459
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Behinderte, Wiederaufgreifen des Verfahrens, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Finanzierbarkeit, Grüne Karte, yesil kart, Solidaritätsfonds, Beweiswürdigung, Sachverständigengutachten, Kurden, Übergangsschwierigkeiten, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Dem Kläger steht kein Anspruch auf Wiederaufgreifen seines 1999 negativ abgeschlossenen Asylverfahrens sowie auf Feststellung des Vorliegens zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach (nunmehr) § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vormals: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) mit Blick auf die bei ihm vorliegende Körperbehinderung mit entsprechenden medizinischen Behandlungserfordernissen zu.

Das Erfordernis einer "extremen" Rückkehrgefährdung des Klägers, der vor dem Senat selbst darauf hingewiesen hat, dass in der Türkei eine Vielzahl von Personen mit gleichen oder vergleichbaren Behinderungen leben, ergibt sich unabhängig von dem bisher Gesagten auch aus Folgendem: Die wegen allgemein unzureichender sozialer Fürsorge fragliche Finanzierbarkeit einer möglichen ärztlichen Behandlung im Abschiebezielstaat ist zumindest bei - wie hier - verbreiteten Krankheiten (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.4.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973, zu AIDS in afrikanischen Staaten) eine allgemeine Gefahr im Sinne des §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der für den Abschiebungsschutz Sperrwirkungen entfaltet (vgl. hierzu auch OVG Münster, Urteil vom 2.2.2005 - 8 A 59/04.A -, wonach im Bereich krankheitsbedingter Abschiebungshindernisse das Vorliegen einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei Krankheiten in Betracht kommt, die nicht nur singulär auftreten oder wenig verbreitet sind, sondern an denen viele Menschen im Abschiebezielstaat leiden, und diese Frage auch zu prüfen ist, wenn der Ausländer unter Hinweis auf wirtschaftliche und soziale Verhältnisse die Gefahr einer Verschlimmerung seiner Erkrankung mit der Begründung geltend macht, dass Behandlungsmöglichkeiten für ihn mangels Versicherungsschutzes und fehlender Eigenmittel nicht erreichbar seien).

Aus dem jüngsten allgemeinen Lagebericht des Auswärtigen Amts (vgl. den Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 11.11.2005 - 508-516.80/3 TUR - (Stand: November 2005), dort Abschnitt IV.3.b., Seiten 38 ff.) ergibt sich eine Grundsicherung der medizinischen Versorgung auch mittelloser Personen in der Türkei. Nach dem - in der Praxis auch angewandten - Gesetz Nr. 3816 vom 18.6.1992 haben Bedürftige das - beispielsweise in Diyarbakir von 40 % der Bevölkerung wahrgenommene - Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung der Türkischen Republik eine "Grüne Karte" ("yesil kart") ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem der Türkei berechtigt. Durch das Gesetz Nr. 5222 vom 14.7.2004 wurden die über die "Grüne Karte" erhältlichen medizinischen Leistungen gegenüber dem bis dahin geltenden Rechtszustand sogar wesentlich erweitert. Auch vor Ausstellung der Karte werden bei Notfallerkrankungen sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden Ausgaben, insbesondere für benötigte Medikamente, getragen. Als bedeutende Verbesserung der Versorgung werden seit dem 1.1.2005 auch die Kosten für Medikamente bei ambulanten Behandlungen übernommen. Für Leistungen, die nicht über die "Grüne Karte" abgedeckt sind, stehen in der Türkei ergänzend Mittel aus den örtlichen Solidaritätsfonds (Sosyal Yardim ve Dayanisma Fonu) zur Verfügung.

Daher ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Kläger die benötigte Behandlung - wenn auch nicht auf "westlichem Standard" - und die erforderlichen Medikamente in seinem Heimatland erhalten kann.

Etwas anderes lässt sich auch der Aussage der Amtsärztin Dr. ... in deren "Gutachten" vom 12.9.2000, der Kläger sei in der Türkei "nicht existenzfähig", nicht entnehmen. Die Gerichte haben die Aufgabe, vorliegende sachverständige Äußerungen nicht einfach zu übernehmen, sondern die darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen im Rahmen der Überzeugungsbildung nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO unter Berücksichtigung aller Umstände, der eigenen Sachkunde sowie der allgemeinen Lebenserfahrung mit Blick auf ihre Schlüssigkeit und Tragfähigkeit zur Begründung des von dem Verfahrensbeteiligten geltend gemachten Anspruchs zu würdigen (vgl. hierzu im einzelnen etwa OVG des Saarlandes, Beschluss vom 21.9.2005 - 2 Q 18/05 -, SKZ 2006, 57, Leitsatz Nr. 65, m.w.N., sowie OVG Münster, Beschluss vom 5.1.2005 - 21 A 3093/04.-, NVwZ-RR 2005, 358 (PTBS))

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zwei Argumente für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses trotz der beschriebenen ausreichenden medizinischen Versorgungslage in der Türkei aufrechterhalten, und zwar zum einen den Hinweis auf seine kurdische Volkszugehörigkeit und zum anderen das Problem eines aus seiner Sicht "unversorgten" Übergangszeitraums bei seiner Rückkehr in die Türkei. Beides rechtfertigt keine abweichende Entscheidung.

Was den Hinweis auf seine kurdische "Nationalität" anbelangt, so finden sich in der Gerichtsdokumentation zwar Hinweise darauf, dass vor Ausstellung der "Grünen Karte", die nach der gesetzlichen Ausgangslage zwar eine Prüfung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit des Betroffenen, aber keine Überprüfung von politischen Gesinnungen voraussetzt, durch die mit den Nachforschungen betrauten Sicherheitskräfte bisweilen "Hinweise" politischen Charakters in ihre Berichte aufgenommen und dann auch negativ verwertet werden sollen (vgl. etwa das Gutachten von Osman Aydin an das VG Stuttgart vom 23.5.2005 zu dem dortigen Aktenzeichen A 12 K 13322/04 -, Seite 4 unten, oder das Gutachten von Serafettin Kaya vom 29.5.2005 in der selben Sache). Dabei handelt es sich indes angesichts der in die Millionen gehenden Anzahl der Inhaber der "grünen Karte" (Yesil Kart) in der Türkei (vgl. Aydin, wie zuvor, Seite 3 oben, wo von 13.318.559 Kartenbesitzern ausgegangen wird) und insbesondere des hohen Anteils, etwa in Diyarbakir nicht um ein "allgemein kurdisches Problem".

Was das Argument des Klägers anbelangt, dass die Ausstellung der ihm einen Zugang zu Krankenbehandlungsleistungen vermittelnden Yesil Kart für aus dem Ausland zurückkehrende mittellose Personen "mehrere Monate" in Anspruch nehme, er also zumindest in dieser Zeit eine Behandlung nicht erlangen könne, so handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um typische "Übergangsschwierigkeiten" (vgl. in dem Zusammenhang OVG Münster, Urteil vom 2.2.2005 - 8 A 59/04.A -, wonach wesentliche Unregelmäßigkeiten bei der Erteilung der Yesil Kart, bei der Unterstützung durch den Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität sowie bei der kostenfreien Inanspruchnahme der staatlichen Gesundheitsleistungen in der Türkei "regelmäßig nicht beachtlich wahrscheinlich" sind), die unmittelbar mit der Art und Weise der Rückführung in den Herkunftsstaat zusammen hängen und die dem Vollstreckungsverfahren der Ausländerbehörde zur Aufenthaltsbeendigung zuzurechnen sind (vgl. auch hierzu BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463 ff.). Ihnen muss daher gegebenenfalls durch die Ausgestaltung der Rückführung im konkreten Fall begegnet werden, wobei in besonderen Fällen auch die Einschaltung der deutschen Auslandsvertretung in Betracht zu ziehen ist (vgl. etwa OVG des Saarlandes, Beschluss vom 27.3.2006 - 2 Q 45/05 -, wonach hinsichtlich der Übergangsschwierigkeiten bei der Rückführung besondere Sorgfalt und Maßnahmen der Ausländerbehörde erforderlich machen können; zum Ausschluss eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses durch verbindlich zugesagte Maßnahmen der Ausländerbehörde, etwa die Mitgabe von benötigten Medikamenten OVG des Saarlandes, Beschluss vom 28.7.2004 - 1 Q 39/04 -, SKZ 2005, 99, Leitsatz Nr. 53, wonach auch die Tatsache, dass ein Ausländer schwer krank ist und dass sein Heimatland zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, zur Bejahung eines Abschiebungshindernisses nicht ausreicht, sofern durch begleitende Maßnahmen eine medizinische Versorgung im Zielstaat gewährleistet wird).