VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 11.07.2006 - 5 K 1577/00.A - asyl.net: M8470
https://www.asyl.net/rsdb/M8470
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Volksmudjaheddin, MEK, Sippenhaft, Haft, Folter, sexuelle Misshandlungen, Glaubwürdigkeit, Flüchtlingsfrauen, Frauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. Mai 2000 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a des Grundgesetzes (GG) und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Zu dieser Überzeugung ist die Kammer aufgrund der Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes beim Bundesamt in der rund sechsstündigen mündlichen Verhandlung vom 25. August 2005, der Angaben in der Verhandlung vom 11. Juli 2006 sowie dem gewonnenen persönlichen Eindruck der Asylsuchenden und der gutachterlichen Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts vom 3. April 2006 an das erkennende Gericht gelangt. Danach drohten der Klägerin vor der Ausreise und drohen ihr auch bei

einer Rückkehr in den Iran Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Stellen wegen eines asylerheblichen Merkmals. Die Kammer glaubt der Klägerin, dass sie in den achtziger Jahren (bis 1987) im Iran wegen des Vorwurfs der Betätigung für die Mudjahedin vier Jahre und drei Monate inhaftiert war, während der Haft misshandelt wurde und auch in der Folgezeit Repressalien in Gestalt von Meldepflichten und Passverweigerung ausgesetzt war. Ihre Angaben hierzu sind im wesentlichen widerspruchsfrei, anschaulich und detailliert. Soweit sie in der mündlichen Verhandlung über eine bis dahin nicht erwähnte, aber zu Beginn des Klageverfahrens bereits angedeutete sexuelle Misshandlung in Form einer Vergewaltigung berichtet hat, sieht das Gericht hierin kein gesteigertes und unglaubwürdiges Vorbringen, da das zunächst erfolgte Unterlassen entsprechender Angaben sowohl im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund der Klägerin als auch nach dem von ihr gewonnenen persönlichen Eindruck nachvollziehbar erscheint. Insbesondere konnte sie dem Gericht vermitteln, dass ihr vormaliges Schweigen nicht darauf beruhte, dass die Schilderung nicht der Wahrheit entspricht und zunächst "erfunden" werden musste, sondern auf dem mit der Erinnerung und der Beschreibung des Geschehens verbundenen besonderen Leidensdruck. Das Gericht ist aufgrund der widerspruchsfreien Angaben der Klägerin und der Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts in seinem Gutachten vom 3. April 2006 zu der Überzeugung gelangt, dass deshalb jedenfalls für sie die Gefahr asylerheblicher Übergriffe durch staatliche Sicherheitskräfte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohte und mit der Ausreise zunächst abgewendet wurde, aber bei einer Rückkehr in den Iran auch heute noch droht. Der Gutachter macht anschaulich und nachvollziehbar deutlich, dass jemand mit einer politischen Biographie wie die Klägerin, sich in den Augen iranischer Behörden nicht mehr richtig befreien kann und mit einer Reaktivierung alter Vorgänge rechnen muss, wenn etwas "auffälliges" passiert. Er erachtet das Vorbringen der Klägerin, insbesondere auch den Einzug der Reisepässe und das Erheben von Vorhaltungen wegen früherer Reisen nach Deutschland wegen des Bruders und dessen Ausreise, für insgesamt plausibel und das geschilderte Verhalten iranischer Behörden in solchen Fällen als durchaus typisch. Völlig gleichgültig ist nach seiner Einschätzung, ob an den erhobenen Vorwürfen "irgendetwas dran ist". Der vom Bundesamt gegen die Bewertung des Sachverständigen erhobene Einwand, dass Sippenhaft im Iran nicht praktiziert wird, trifft den Sachverhalt nicht. Denn es war nicht zu prüfen, ob eine Gefährdung der Klägerin allein wegen politischer Tätigkeiten oder Verfolgung des Bruders besteht, sondern ob dies der Fall ist, weil sie selbst aufgrund ihrer Vergangenheit vorbelastet ist und diese Vorbelastung aus Anlass eines neuen - ohne ihre Vergangenheit möglicherweise unproblematischen - Vorfalls erneut auflebt. Auch der Umstand, dass die Klägerin bis zu ihrer Ausreise keinen gravierenderen Folgen als den von ihr beschriebenen ausgesetzt war, sagt nichts aus über den Grad der Gefährdung und die Wahrscheinlichkeit weiterer asylerheblicher Verfolgungsmaßnahmen, wenn nicht zuvor die Ausreise erfolgt wäre bzw. bei einer Rückkehr in den Iran nach Abschluss des Asylverfahrens.