VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 28.06.2006 - 20 K 5937/04.A - asyl.net: M8474
https://www.asyl.net/rsdb/M8474
Leitsatz:

Der Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 AufenthG setzt voraus, dass von dem Ausländer weiterhin eine entsprechende Gefahr ausgeht.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Mitglieder, Funktionäre, Folter, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, nichtpolitisches Verbrechen, Auslandsstraftaten, Grundsätze der Vereinten Nationen, Terrorismus, Terrorismusvorbehalt, Wiederholungsgefahr, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Der Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 AufenthG setzt voraus, dass von dem Ausländer weiterhin eine entsprechende Gefahr ausgeht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die materiellen Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) besteht, liegen nicht vor.

Es unterliegt keinen vernünftigen Zweifeln, dass dem vorverfolgt ausgereisten Kläger, dessen Auslieferung von der Türkei beantragt ist, auch heute noch bei einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner früheren oder heutigen politischen Überzeugung Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Form von Folter oder Misshandlungen drohen, solche Maßnahmen jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können, sodass die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) weiterhin vorliegen.

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. Ganz konkret wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine politische Verfolgung durch den Staat ausschließen sollen. Namentlich sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2006 - 15 A 2202/00.A -; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -; zur Rückkehrgefährdung ehemaliger PKK-Aktivisten auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23. Februar 2006).

Angesichts der schweren Vorwürfe, die gegen den Kläger erhoben werden, und angesichts des von den türkischen Behörden mit großer Wahrscheinlichkeit gehegten Verdachts, der Kläger könne über eingehende und vertiefte Kenntnisse der Organisation und Strukturen der (früheren) PKK, ihrer Strategien und Handlungspläne, sowie ihrer Führungsmitglieder und personellen Verflechtungen verfügen, besteht im Falle des Klägers zur Überzeugung des Gerichts auch weiterhin eine gesteigerte Gefahr, im Zuge von Vernehmungen Misshandlungen oder der Folter ausgesetzt zu werden.

Das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG ist auch nicht aufgrund einer nachträglichen Veränderung der Sach- oder Rechtslage im Hinblick auf § 51 Abs. 3 AuslG bzw. § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen.

Die Vorschrift des § 60 Abs. 8 AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 AuslG) findet im Rahmen des § 73 AsylVfG Anwendung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. Dezember 2003 - 8 A 3766/03.A -).

Gemäß § 60 Abs. 8 S. 1, 1. Alt. AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 S. 1, 1. Alt. AuslG) findet Abs. 1 keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der BRD anzusehen ist. Das Gleiche gilt, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Ausländer vor seiner Aufnahme als Flüchtling ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Gebiets der BRD begangen hat (S. 2, 2. Alt.) oder sich hat Handlungen zu Schulde kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen (S. 2, 3. Alt.).

Soweit das Bundesamt dem Kläger vorhält, dass von ihm trotz Trennung von der PKK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgehe, weil davon ausgegangen werden könne, dass er Deutschland als Exilland gewählt habe, um von hier aus seinen Kampf für die "kurdische Sache" über die Zentrale der sog. L-Bande bzw. über entsprechende Netzwerke in L1 fortzusetzen, kann offen bleiben, ob insoweit die Tatbestandsvoraussetzung der Annahme einer schwerwiegenden Gefahr für die Sicherheit der BRD erfüllt ist. Denn ein Widerruf mit dieser Begründung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil es seit der Zuerkennung des Abschiebungsschutzes für den Kläger keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich terroristischer Aktivitäten des Klägers oder seiner Einstellung zur PKK gibt. Seit der Entscheidung des Bundesamtes hat der Kläger keine erkennbaren Aktivitäten unternommen, die es rechtfertigen würden, ihn als Gefahr für die BRD anzusehen. Die Beklagte leitet die Einschätzung aus der Bewertung der früheren Rolle des Klägers her, die sich aber gar nicht geändert hat. Es liegt nur eine Änderung der Bewertung der Gefahrenlage vor.

Der Widerruf der positiven Feststellung eines Abschiebungsverbotes lässt sich auch nicht darauf stützen, dass nachträglich schwerwiegende Gründe für die Annahme eingetreten wären, dass der Kläger ein nichtpolitisches Verbrechen außerhalb der BRD begangen hat, bzw. Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG).

Allerdings dürften schwerwiegende Gründe für die oben genannten Annahmen vorliegen. Die PKK hat in den 90er Jahren ihre politischen Ziele auch mit terroristischen Methoden verfolgt. Sie ist deshalb sowohl in der Türkei als auch in Deutschland verboten. Der Kläger selbst war als führender Kader der PKK bis 1999 in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129 a StGB tätig und dies rechtfertigt allein deswegen die Annahme, dass er ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb der BRD begangen hat.

Zugleich dürfte aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt sein, dass der Kläger sich als Kader der PKK Handlungen hat zu Schulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

Jedoch ist zu beachten, dass die Mitgliedschaft des Klägers in der PKK und der von den türkischen Behörden erhobene konkrete Verdacht, an dem Überfall im Jahre 1994 beteiligt gewesen zu sein, schon bei Zuerkennung des Abschiebungsverbotes bekannt war. Es gibt insoweit keine neuen Erkenntnisse.

Geändert hat sich allerdings die Rechtslage: Denn § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG ist erst durch Art. 11 Nr. 9 Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361) mit Wirkung vom 1. Januar 2002 eingefügt worden und damit nach der Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG. § 73 Abs. 1 AsylVfG ist auch bei einer Änderung der Rechtslage anwendbar (vgl. VG Bremen, Urteil vom 30. Juni 2005 a.a.O.).

Allein der Umstand, dass der Kläger in der Vergangenheit eine führende Funktion innerhalb einer terroristischen Organisation eingenommen hat, führt jedoch nicht dazu, dass das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgeschlossen wäre. Denn der Ausschluss nach § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG setzt über die geschriebenen Tatbestandsmerkmale hinaus noch voraus, dass von dem Ausländer weiterhin Gefahren ausgehen, wie sie sich in seinem früheren Verhalten manifestiert haben (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 6. Dezember 2002 a.a.O.; VG Bremen, Urteil vom 30. Juni 2005 a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil vom 19. August 2005 - 26 K 6497/04.A -).

Der Gegenauffassung, wonach im Anwendungsbereich von § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG) keine Überprüfung erforderlich ist, ob vom Ausländer eine hinreichende Wiederholungsgefahr im Sinne einer fortbestehenden Gefahr ausgeht (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 6. Februar 2006 - AN 1 K 05.30351 - JURIS unter Hinweis auf die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes), vermag das erkennende Gericht nicht zu folgen.

Die Ausschlusstatbestände des § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG) sind einerseits in deutlicher Anlehnung an die Ausschlussgründe von Art. 1 F GK und wohl auch in Anlehnung an die Richtlinie 2004/83/EG (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A - NWVBl. 2006, 224), formuliert worden, andererseits sollte ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG damit der terroristischen Bedrohung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Ausführung der Sicherheitsratsbeschlüsse Rechnung getragen werden. In der BT-Drucks. 15/420 (91 f.) heißt es zu § 60 Abs. 8 AufenthG, die Regelung bewirke, dass Ausländer, die aus schwerwiegenden Gründen schwerster Verbrechen verdächtig sind, nicht mehr die Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten. Sie erhielten keinen Aufenthaltstitel, unterfielen den Einschränkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes und unterlägen Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Damit werde Deutschland als Ruheraum für international agierende terroristische Netzwerke weniger interessant. Beispielsweise beeinträchtige die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Bundeslandes die direkten Kontakte und Kommunikationsmöglichkeiten terroristischer Gruppierungen. Auslandsreisen seien erschwert und mit dem Risiko der Entdeckung verhaftet. Die Auslegung der Ausschlussgründe ist dennoch nicht eindeutig zu klären, weil sowohl über die Auslegung von Art. 1 F GK als auch über die rechtliche Bedeutung der Sicherheitsratsresolutionen im Hinblick auf die Einschränkung des Schutzes potentiell politischer Verfolgter keine hinreichende Klarheit (vgl. im Einzelnen zum Vorstehenden: Hailbronner, AuslR (Stand: Februar 2006), § 60 Rdnr. 156-191 mit eingehender Diskussion der Problematik und einer ausführlichen Übersicht über den Meinungsstand, auf die zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird).

Das erkennende Gericht schließt sich der Auffassung an, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Auslegung geboten ist, die über Art. 1 F GK hinausgehend eine konkrete zukünftige Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder anderer Staaten erfordert, weil § 60 Abs. 8 AufenthG nicht nur den Schutz von Flüchtlingen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, sondern auch den Schutz Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG einschränkt. Bei einem anderen Verständnis gerät die Norm zu einer reinen Sanktionsnorm mit - möglicherweise - lebenslanger Auswirkung für den Betroffenen. Die nachteiligen Auswirkungen für den Ausländer - insbesondere die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und von Leistungsansprüchen - sind aber auf unbegrenzte Dauer jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn sich der Ausländer glaubhaft von seinen terroristischen Bestrebungen losgesagt hat, möglicherweise sogar - wenn dies auch hier offenbar nicht der Fall ist - unter Preisgabe wertvoller Informationen für die Sicherheitsdienste zur Bekämpfung des Terrorismus.

Ist demnach auch im Rahmen von § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG (früher § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG) eine Gefahrenprognose erforderlich, so fällt diese Prognose hier zugunsten des Klägers aus.