OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 16.06.2006 - 9 LB 104/06 - asyl.net: M8489
https://www.asyl.net/rsdb/M8489
Leitsatz:

Gefährdung vietnamesischer Staatsangehöriger wegen exilpolitischer Betätigung nur bei besonders auffälliger, ernstzunehmender und nicht nur auf das Ausland beschränkter regimekritischer Betätigung.

 

Schlagwörter: Vietnam, Folgeverfahren, subjektive Nachfluchtgründe, exilpolitische Betätigung, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Anwendungszeitpunkt, Europäischer Gerichtshof, EuGH, Vorabentscheidung, Vorlage, Situation bei Rückkehr, Oppositionelle, neue Sachlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 28 Abs. 2; AsylVfG § 77 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3; EG Art. 234 Abs. 3
Auszüge:

Gefährdung vietnamesischer Staatsangehöriger wegen exilpolitischer Betätigung nur bei besonders auffälliger, ernstzunehmender und nicht nur auf das Ausland beschränkter regimekritischer Betätigung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Im Hinblick auf das begehrte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist dem Kläger - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - die Berufung auf die von ihm geltend gemachten Nachfluchtgründe gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG verwehrt.

Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des nach Art. 15 Abs. 3 ZuwanderungsG am 1. Januar 2005 im Laufe des erstinstanzlichen Klageverfahrens in Kraft getretenen § 28 Abs. 2 AsylVfG bestehen keine Bedenken. Denn gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist in asylverfahrensrechtlichen Streitigkeiten die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Eine Übergangsregelung, die hinsichtlich des § 28 Abs. 2 AsylVfG Abweichendes regelt, enthält das Asylverfahrensgesetz nicht.

Entgegen der Auffassung des Klägers werden auch die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Rückwirkung bzw. der tatbestandlichen Rückanknüpfung von Gesetzen nicht dadurch verletzt, dass sich das vom Kläger bereits vor dem 1. Januar 2005 angestrengte Folgeverfahren nunmehr an der Regelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG messen lassen muss.

Der vom Verwaltungsgericht dargelegten Auslegung, § 28 Abs. 2 AufenthG sei unter Berücksichtigung von Art. 5 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (ABl. vom 30.9.2004, L 304/12) eng auszulegen und sperre nur ganz ausnahmsweise bei ausnahmslos rein subjektiven Nachfluchtgründen den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG, folgt der Senat nicht.

Aus dem Sinn und Zweck der Regelung sowie aus dem gesetzlichen Regelungszusammenhang mit § 28 Abs. 1 AsylVfG ergibt sich ein anderes Regel-Ausnahmeverhältnis, ohne dass auf Art. 5 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates zurückzugreifen ist. Mit dem § 28 Abs. 2 AsylVfG geht es dem Gesetzgeber ersichtlich darum, die Beachtlichkeit der subjektiven Nachfluchtgründe für die Gewährung des kleinen Asyls im sog. Nachfluchtverfahren einerseits und die für die Gewährung des großen Asyls andererseits, tatbestandlich so zu koordinieren, dass sie auch in ihren aufenthaltsrechtlichen Rechtsfolgen gleichgestellt werden können. Das in § 28 Abs. 1 AsylVfG angelegte Regel-Ausnahmeverhältnis sowie die für das Verständnis dieser Bestimmung maßgeblichen Grundsätze und Abgrenzungskriterien überträgt der Gesetzgeber im Rahmen des Ausschlusstatbestandes des § 28 Abs. 2 AsylVfG auf die Fälle, in denen über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in einem Folgeverfahren zu entscheiden ist.

Aus dieser Orientierung folgt, dass nach § 28 Abs. 2 AsylVfG auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Regel entfallen soll, wenn nach Abschluss des ersten Asylverfahrens vom Asylbewerber aus eigenem Entschluss geschaffene Verfolgungsgründe mangels Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht ihrerseits - der Regel entsprechend - asylrechtlichunbeachtlich bleiben müssten. Eine Ausnahme von der Regel der Unbeachtlichkeit des subjektiven Nachfluchtgrundes ist sowohl für den Anwendungsbereich des großen wie des kleinen Asyls jeweils nur dann zugunsten des Asylbewerbers zu machen, wenn dessen Nachfluchtaktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen oder wenn der Ausländer sich aufgrund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 - 8 A 780/04.A - ZAR 2005, 422 = EzAR-NF 63 Nr. 1).

Eine Ausnahme, welche die Rechtsfolge des § 28 Abs. 2 AsylVfG verhindern könnte, kann bei dem Kläger nicht festgestellt werden.

Auch mit Blick auf die sog. Qualifikationsrichtlinie ist eine andere Beurteilung nicht geboten. Diese Richtlinie ist erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist, das ist der 10. Oktober 2006 (vgl. Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates), anwendbar. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet sie keine unmittelbare Wirkung. Ein Einzelner kann sich vor den nationalen Gerichten auf eine umzusetzende, aber noch nicht umgesetzte Richtlinie frühestens - sofern auch die übrigen Voraussetzungen dafür vorliegen - nach Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist berufen (vgl. EuGH, st. Rspr. seit Urt. v. 5.4.1979 - Rs. 148/78 [Strafverfahren gegen Ratti] - Slg. 1979, 1629 = NJW 1979, 1764; OVG Münster, Beschluss vom 4. April 2006 - 9 A 3590/05.A - zitiert nach juris und vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A - ZAR 2005, 374 = AuAS 2006, 105, m. w. N.; OVG Hamburg, Beschluss vom 8.3.2006 - 4 Bf 406/98.A -; OVG Schleswig, Beschluss vom 13.7.2005 - 1 LA 68/05 - AuAS 2005, 262 = NordÖR 2005, 392; VGH Mannheim, Beschluss vom 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - AuAS 2005, 163 = NVwZ 2005, 1098 = DÖV 2005, 747).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn dem Verwaltungsgericht zu folgen wäre, dass die nationalen Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist berechtigt seien, sich bei der Auslegung nationalen Rechts an den Bestimmungen einer Richtlinie zu orientieren. Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates können die Mitgliedstaaten unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat. In dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission (vgl. Art. 8, KOM 2001/0510; ABl. C 51E/2002 S. 325) war Artikel 5 Abs. 3 der endgültigen Fassung nicht enthalten, sondern ist im Verlauf der Beratungen eingefügt worden. Damit ist für die Mitgliedstaaten eine Öffnungsklausel geschaffen worden, die ihnen Raum gibt für Regelungen wie in § 28 Abs. 2 AsylVfG. Soweit man Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates als Ausnahme zur Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates einordnen kann, folgt daraus nicht, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates im Hinblick auf den dort allein angesprochenen Folgeantrag restriktiv auszulegen ist. Vielmehr wird damit den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, bei subjektiven Nachfluchtgründen im Rahmen von Folgeanträgen die Anerkennung als Flüchtling in der Regel zu versagen. Die Wortwahl "in der Regel" entspricht derjenigen in § 28 Abs. 2 AsylVfG, d. h. hier soll gerade bei selbstgeschaffenen Nachfluchtgründen nach Verlassen des Herkunftslandes im Regelfall die Versagung der Flüchtlingsanerkennung bzw. des Abschiebungsverbots erfolgen und nicht bloß im Ausnahmefall. Die Vorschrift des § 28 Abs. 2 AsylVfG befindet sich daher im Gleichklang mit Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates.

Der Senat sieht weder einen Anlass, noch besteht für ihn gar eine Verpflichtung, nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EGV - eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs darüber einzuholen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, wie sie in Art. 28 Abs. 2 AsylVfG in der Fassung vom 30. Juli 2004 getroffen worden ist. Denn der Senat ist nicht gehindert, selbst über die Auslegung europarechtlichen Sekundärrechts zu befinden.

Zum anderen erweist sich die Auslegungsfrage nicht als entscheidungserheblich. Denn selbst wenn man die vom Verwaltungsgericht vertretene Auslegung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG als richtig unterstellen würde, würde die sich daran anschließende Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG ergeben, dass dem Kläger ein solches Abschiebungsverbot nicht zusteht. Dies deshalb, weil der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung, Vietnam habe seine Vorgehensweise gegenüber im Ausland exilpolitisch und regimekritisch in Erscheinung getretenen Rückkehrern seit dem Zeitpunkt des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes verschärft, nicht gefolgt werden kann.

Anhaltspunkte für eine verschärfte strafrechtliche oder sicherheitsrechtliche Behandlung von Rückkehrern aus Deutschland sind nach den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht festzustellen. Der Senat vertritt in Übereinstimmung mit anderen Obergerichten (BayerVGH, Beschluss vom 17.03.2005 - 8 ZB 04.31079 - ; HessVGH, Urteil vom 3.9.2003 - 11 UE 1011/01.A -; OVGNRW, Urt. v. 22.9.2000 - 1 A 2531/98.A -) in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa Beschluss vom 11.9.2001 - 9 LA 2942/01) - zuletzt in seinem Beschluss vom 24.10.2003 - 9 LA 256/03 - die Auffassung, eine Verfolgung wegen exilpolitischer Aktivitäten drohe bei einer Rückkehr nach Vietnam nur solchen Personen, deren besonders auffällige regimekritische Betätigung in ihren Wirkungen nicht im Wesentlichen auf das Ausland begrenzt geblieben ist und deren oppositionelle Aktivitäten als Ausdruck ernstzunehmender, nicht bloß asyltaktisch motivierter Opposition von Seiten vietnamesischer Behörden gewertet werden. Der Senat sieht auch unter Auswertung der aktuell vorliegenden Erkenntnismittel keinen Anlass, diese Rechtsprechung aufzugeben.