VG Osnabrück

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VG Osnabrück, Urteil vom 10.07.2006 - 5 A 53/06 - asyl.net: M8491
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Leitsatz:

1. Jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 1. Januar 2005 im geregelten Aufnahmeverfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, haben ihre ausländerrechtliche Sonderstellung auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht verloren.

2. Die Änderung der stetigen, auf den Runderlassen des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport beruhenden Verwaltungspraxis der niedersächsischen Ausländerbehörden, von jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht die Annahme eines Nationalpasses eines Nachfolgestaates der UdSSR zu fordern, sondern diesem Personenkreis auf Verlangen einen Internationalen Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen, ist durch keine sachlichen Gründe gerechtfertigt. Die jüdischen Emigranten können daher auf die Beibehaltung der bisherigen passrechtlichen Behandlung durch die Ausländerbehörden vertrauen.

 

Schlagwörter: D (A), Reiseausweis, Flüchtlingsausweis, Verlängerung, Aufnahmeverfahren, Kontingentflüchtlinge, Juden, Sowjetunion, Vertrauensschutz, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Erlasslage, Verwaltungspraxis
Normen: GFK Art. 28; HumHAG § 1 Abs. 1; AufenthG § 103 S. 1; HumAG § 2; HumAG § 1 Abs. 3; AufenthG § 101 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 102 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1; AufenthV § 5 Abs. 1; AufenthV § 5 Abs. 2
Auszüge:

1. Jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 1. Januar 2005 im geregelten Aufnahmeverfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, haben ihre ausländerrechtliche Sonderstellung auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht verloren.

2. Die Änderung der stetigen, auf den Runderlassen des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport beruhenden Verwaltungspraxis der niedersächsischen Ausländerbehörden, von jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht die Annahme eines Nationalpasses eines Nachfolgestaates der UdSSR zu fordern, sondern diesem Personenkreis auf Verlangen einen Internationalen Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen, ist durch keine sachlichen Gründe gerechtfertigt. Die jüdischen Emigranten können daher auf die Beibehaltung der bisherigen passrechtlichen Behandlung durch die Ausländerbehörden vertrauen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Klage ist - hinsichtlich des Hauptantrags in Form der Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO - zulässig und bereits im Hauptantrag begründet, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Verlängerung ihres im August 2003 von der Beklagten ausgestellten internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge.

1.) Ein Anspruch auf Ausstellung eines internationalen Reisepasses für Ausländer folgt dabei nicht schon aus Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).

Indes ist nach ständiger Rechtsprechung tatbestandliche Voraussetzung des Art. 28 Abs. 1 GFK, dass der Anspruchsteller wegen politischer Verfolgung Flüchtling im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GFK ist und seine Flüchtlingseigenschaft auch durch das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - vormals Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - im Wege der Anerkennung als Asylberechtigter (§ 2 Abs. 1 AsylVfG) oder als sonstiger politisch Verfolgter (§ 3 AsylVfG) und die damit verbundene Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG erreicht hat (BVerwG, Urteil vom 21.01.1992, 1 C 21/87, BVerwGE 89, 296 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.06.1994, 13 S 3154/93, juris; OVG Bremen, Urteil vom 18.05.1999, 1 HB 497/98, NVwZ-RR 2000, 58 f.). Das ist bei der Klägerin nicht der Fall, denn weder sie noch ihre Eltern wurden bis zu ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der Republik Kirgistan politisch verfolgt.

2.) Ein Anspruch auf Verlängerung des Flüchtlingsausweises lässt sich auch nicht aus § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl. I 1980, 1057; HumHAG), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 29.10.1997 (BGBl. I S. 2584), i.V.m. Art. 28 GFK herleiten, denn dieses Gesetz ist durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 3 des Zuwanderungsgesetzes (Gesetz vom 30.07.2004, BGBl. I S. 1950) am 1. Januar 2005 außer Kraft getreten.

a) Den Status eines Kontingentflüchtlings hat die Klägerin nicht dadurch erworben, dass ihr die Beklagte im Jahre 2000 eine Bescheinigung des Inhalts ausgestellt hat, sie sei ausländischer Flüchtling im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juni 1980, und einen entsprechenden Eintrag auch in dem im Jahre 2003 ausgestellten internationalen Reiseausweis für Flüchtlinge vorgenommen hat. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings kraft Gesetzes entsteht, wenn die in § 1 Abs. 1 HumHAG genannten Voraussetzungen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.02.1996, 9 C145/95, DVBl. 1996, 624 ff. sowie nachstehend zu b)) vorliegen. Ein Anerkennungs- oder Feststellungsverfahren ist gesetzlich nicht vorgesehen. Sowohl die Erteilung einer Bescheinigung nach § 2 HumHAG als auch der entsprechende Eintrag in ein Pass- oder Ausweispapier des Ausländers hat damit keine konstitutive Wirkung für das Entstehen der Rechtsstellung nach § 1 Abs. 1 HumHAG, sondern setzen diese gleichsam voraus (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.07.2001, A 6 S 2218/99, InfAuslR 2002, 100 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.11.1999, 11 A 11523/99, NVwZ-Beilage I 4/2000, I 37 f.; VG Augsburg, Urteil vom 18.09.2001, a.a.O., und vom 11.07.2000, a.a.O.; vgl. auch VG Oldenburg, Urteil vom 27.08.2002, 12 A 4279/00, juris, zu den "albanischen Botschaftsflüchtlingen"; a.A. VG München, Urteil vom 13.08.1997, M 7 K 97.854, InfAuslR 1997, 476, und offenbar auch VG Frankfurt, Beschluss vom 09.02.2001, 1 G 5870/00, juris, jeweils ohne Begründung).

b) Zutreffend geht die Beklagte ferner davon aus, dass weder die Klägerin noch ihre Eltern durch die Einreise in die Bundesrepublik im geregelten Aufnahmeverfahren im Jahre 2000 die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings im Sinne des § 1 Abs. 1 HumHAG eingeräumt bekommen haben. Nach der Rechtsprechung des Bundsverwaltungsgerichts ist statusbegründende Voraussetzung für die Rechtsstellung als Kontingentflüchtling neben der Aufnahme des Ausländers im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in Form des Sichtvermerks oder aufgrund einer Übernahmeerklärung nach § 33 Abs. 1 des Ausländergesetzes durch das Bundesministerium des Inneren, dass der Ausländer Flüchtling ist. Das setzt voraus, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in einer Verfolgungssituation befunden hat, wobei die Verfolgung nicht notwendig politischer Art sein muss, oder dessen Lage durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnet ist (BVerwG, Urteil vom 27.02.1996, 9 C145/95, DVBl. 1996, 624 ff.).

aa) Anhaltspunkte für ein Verfolgungs- oder Flüchtlingsschicksal der Klägerin sind - wie bereits oben ausgeführt - weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion erfolgte in der Vergangenheit und erfolgt gegenwärtig vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus.

cc) Bereits der Wortlaut des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz gibt zu erkennen, dass die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nur entsprechend den Vorschriften des HumHAG erfolgte, weil sich die Länder bewusst waren, dass es sich bei den jüdischen Emigranten mangels Verfolgungs- oder Flüchtlingsschicksals nicht um Kontingentflüchtlinge handelte, eine unmittelbare Anwendung des tatbestandlich nicht einschlägigen Gesetzes mithin nicht beschlossen werden konnte (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.09.2004, 1 L 107/02, FEVS 56, 310 ff.; OVG Berlin, Beschluss vom 30.07.2004, 2 N 87.04, juris; Beschluss vom 15.11.2002, 8 SN 258.00, EzAR 018 Nr. 2; VG Augsburg, Urteil vom 11.07.2000, Au 3 K 99.30656, NVwZ 2000, 1449 (1450); VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 06.10.1999, 8 K 37/99, NVwZ 2000, 1447 (1448); VG München, Beschluss vom 24.09.1997, M 6 S 97.5973, InfAuslR 1997, 477 (478); i. Erg. offen VG Kassel, Urteil vom 15.04.1998, 4 E 4222/95 (4), InfAuslR 1999, 313 (314)).

dd) Mit Blick auf die Anwendbarkeit der Vorschriften des HumHAG auf jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion bedeutete die vereinbarte Verwaltungspraxis, dass dieser Personengruppe analog § 1 Abs. 3 HumHAG sofort eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt und eine Bescheinigung nach § 2 HumHAG ausgestellt wurde, ohne dass zuvor eine individuelle Prüfung auf eine Verfolgung oder Diskriminierung in der ehemaligen Sowjetunion stattgefunden hat (OVG Berlin, Beschluss vom 15.11.2002, a.a.O.; VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 06.10.1999, a.a.O.). Auch wurden die Vorschriften über das Erlöschen und den Widerruf der Rechtsstellung als Kontingentflüchtling gemäß §§ 2a, 2b HumHAG auf jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion nicht angewandt (OVG Berlin, Beschluss vom 15.11.2002, a.a.O.; VG Augsburg, Urteil vom 11.07.2000, a.a.O.).

ee) Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass sich der Rechtsstatus jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes einzig aus einer an die Vorschriften des HumHAG angelehnten stetigen Verwaltungspraxis ergab, die zwischen den Ländern und mit dem Bund im Wesentlichen über die Innenministerkonferenz abgestimmt und im Erlasswege landesintern festgeschrieben wurde. Dem durch die Verwaltungspraxis vermittelten Rechtsstatus kam eine ausländerrechtliche Sonderstellung zu, da er sich sowohl von dem der klassischen Kontingentflüchtlinge als auch von dem anderer Ausländer, deren Aufenthalt sich schlichtweg nach dem AuslG bestimmte, unterschied. Kern dieser Übung war eine weitest gehende Gleichstellung mit Kontingentflüchtlingen (Schreiben des BMI vom 10. August 1993, S. 2; Welte in: Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Band 2, 60. Erg.-Lfg. 12/2001, § 33 AuslG Rn. 11). Begrifflich lässt sich der Status der jüdischen Zuwanderer mit "Kontingentflüchtlinge" in einem weiteren bzw. gewissermaßen "untechnischen" Sinne“ (so OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.09.2004, a.a.O.) oder "mittelbare Rechtsstellung als Kontingentflüchtling" (so Welte in: Jakober/Welte, a.a.O.) umschreiben.

ff) Festzustellen ist daneben, dass die Behandlung jüdischer Zuwanderer durch die zuständigen Ausländerbehörden im Detail - namentlich in der hier interessierenden pass- bzw. ausweisrechtlichen Hinsicht - zwischen den einzelnen Bundesländern divergierte. So hat das Bundesministerium des Inneren in dem erwähnten Schreiben an die Innenminister der Länder vom 10. August 1993 darum gebeten, von der Ausstellung internationaler Reiseausweise für Flüchtlinge an jüdische Emigranten aus der ehemaligen UdSSR abzusehen, stattdessen passlosen jüdischen Zuwanderern Reisedokumente nach § 15 DVAuslG auszustellen, und zur Begründung wiederholt darauf verwiesen, dass es nach Auffassung des Auswärtigen Amtes aus außenpolitischen Gründen weiterhin zwingend geboten sei, von der Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge nach der GFK an die aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommenen Juden abzusehen, da dieser Personenkreis durch die Ausstellung als politisch verfolgt gekennzeichnet würde, eine Verfolgung von Juden in der ehemaligen Sowjetunion von staatlicher Seite jedoch nicht vorgelegen habe. Zudem fände die Aufnahme jüdischer Emigranten auch nicht deswegen statt.

Dem ist das Nds. Ministerium des Inneren nicht gefolgt. Die Erlasslage in Niedersachsen sah vielmehr bis zum Inkrafttreten des Runderlasses vom 7. Juni 2004 (Nds. MBl. Nr. 22/2004, S. 454) die Ausstellung von internationalen Reiseausweisen für Flüchtlinge an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wahlweise neben der Ausstellung eines Reisedokuments ausdrücklich vor, vgl. Ziffer 4.2 der Runderlasse vom 30. April 2001 (Nds. MBl. Nr. 19/2001, S. 411) und vom 20. Juli 1999 (Nds. MBl. Nr. 29/1999, S. 586).

Auch in anderen Bundesländern sind in der Vergangenheit an jüdische Emigranten internationale Reiseausweise für Flüchtlinge ausgestellt worden (vgl. den vom VG Augsburg mit Urteil vom 11.07.2000, a.a.O., entschiedenen Fall).

gg) Der besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR ist durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 nicht entfallen. Der Gesetzgeber hat die bisherige jüdische Zuwanderer betreffende Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes ausdrücklich gebilligt und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. So hat er mit § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 20. Juli 1980 oder in entsprechender Anwendung des vorgenannten Gesetzes erteilt worden ist, und eine anschließend erteilte Aufenthaltsberechtigung als Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 fortgelten.

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll somit die künftige Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes allein auf Grundlage der Bestimmungen des AufenthG und der hierzu ergangenen AufenthV erfolgen. Insbesondere hat der Gesetzgeber bekräftigt, unter Abkehr von der bisherigen Verwaltungspraxis den jüdischen Zuwanderern nicht mehr eine den früheren Kontingentsflüchtlingen gleichgelagerte Rechtsstellung einzuräumen.

Daraus lässt sich nach Auffassung der Kammer indes nicht schlussfolgern, dass auch die bereits seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion künftig strikt nach den neuen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu behandeln sind. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die generalklauselartige Formulierung des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck gebracht, dass auch der bisherige besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer unangetastet bleiben soll. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bleiben die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen sonstigen ausländerrechtlichen Maßnahmen, insbesondere zeitliche und räumliche Beschränkungen, Bedingungen und Auflagen, Verbote und Beschränkungen der politischen Betätigung sowie Ausweisungen, Abschiebungsandrohungen, Aussetzungen der Abschiebung und Abschiebungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen und der Befristung ihrer Wirkungen sowie begünstigende Maßnahmen, die Anerkennung von Pässen und Passersatzpapieren und Befreiungen von der Passpflicht, Entscheidungen über Kosten und Gebühren, wirksam. Bereits der Wortlaut des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ("insbesondere") verdeutlicht, dass der Gesetzgeber diese Norm als Auffangvorschrift verstanden wissen wollte, um weitere spezielle Überleitungsregelungen, wie sie für Aufenthaltstitel mit § 101 AufenthG getroffen wurden, entbehrlich zu machen.

Bestärkt wird dieser Befund letztlich dadurch, dass auch die "klassischen" Kontingentflüchtlinge ihre bislang unmittelbar aus dem HumHAG erwachsende besondere Rechtsstellung nicht durch das Außerkrafttreten des HumHAG verloren haben, denn andernfalls wäre die Überleitungsvorschrift des § 103 AufenthG entbehrlich gewesen. Nach § 103 Satz 1 finden die §§ 2 a und 2 b des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge in der bis zum 1. Januar 2005 geltenden Fassung für Personen, die vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes gemäß § 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juni 1980 (BGBl. I S. 1057) die Rechtsstellung nach den Artikeln 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießen, weiter Anwendung. Da die §§ 2 a und 2 b des HumHAG für jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion keine Anwendung fanden (vgl. dazu vorstehend dd)), sondern deren besondere Rechtsstellung nur nach den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften erlöschen bzw. rückabgewickelt werden konnte (vgl. dazu Hochreuter, NVwZ 2000, 1376 (1378)), war eine Ausdehnung dieser Überleitungsvorschrift auf jüdische Zuwanderer - im Gegensatz zur Überleitung des unbefristeten Aufenthaltstitels durch § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG - nicht erforderlich.

3.) Ein Anspruch der Klägerin auf Verlängerung ihres internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge folgt indes aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung in Zusammenschau mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Grundsatz des Vertrauensschutzes (vgl. zur analogen Anwendbarkeit des § 1 Abs. 3 HumHAG nach Inkrafttreten des AufenthG vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG auch Nds. OVG, Urteil vom 18.01.2006, 13 LC 467/03, NdsVBl 2006, 201 ff.).

a) Das Nds. Ministerium für Inneres und Sport hat bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 im Wege der Runderlasse vom 20. Juli 1999, nachgehend vom 30. April 2001 und vom 28. Februar 2003 (Nds. MBl. Nr. 12/2003, S. 243) die nachgeordneten Ausländerbehörden ausdrücklich zur Ausstellung von internationalen Reiseausweisen für Flüchtlinge an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion ohne Nationalpass, wahlweise zur Ausstellung von Reisedokumenten nach § 15 i.V.m. § 17 Abs. 3 Satz 2 DVAuslG ermächtigt. Hieran hat die Beklagte nach eigenen Angaben seither ihre Verwaltungspraxis ausgerichtet. Erst nach Zugang des Schreibens des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 13. Juli 2005 hat sie die beschriebene Verfahrensweise aufgegeben und fortan den betreffenden Personenkreis nach den §§ 5 ff. AufenthV behandelt. In der Ausstellung bzw. Verlängerung internationaler Reiseausweise für Flüchtlinge an jüdische Emigranten aus der ehemaligen UdSSR ist daher eine ständige, gleichmäßige und in Einklang mit den Runderlassen des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport stehende Verwaltungspraxis zu erblicken, von der die Beklagte im Falle der Klägerin wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG nicht ohne sachlichen Grund abweichen darf. Zwar erwähnt der Runderlass vom 7. Juni 2004 die Möglichkeit der Ausstellung internationaler Reiseausweise für Flüchtlinge an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht mehr.

In der kommentarlosen Streichung der bis dato wahlweise gegebenen Möglichkeit zur Ausstellung internationaler Reiseausweise kann indes keine Weisung zur Änderung der bisherigen Verwaltungspraxis an die nachgeordneten Ausländerbehörden erblickt werden, denn dafür hätte es angesichts des Umstands, dass selbst die Beklagte in der Streichung keine Änderung erblickt hat, einer ausdrücklichen Formulierung dergestalt bedurft, dass internationale Reiseausweise für Flüchtlinge fortan nicht mehr ausgestellt oder verlängert werden (vgl. z.B. Ziffer 3.3.4.5 der Vorl. Nds. VV zum AufenthG vom 30.11.2005 oder Ziffer 4.1 des gegenwärtig geltenden Runderlasses vom 02. März 2006 (Nds. MBl. Nr. 18/2006, S. 551)). Im Übrigen sind sachliche Gründe für eine Änderung der Erlasslage zur passrechtlichen Behandlung jüdischer Zuwanderer zum damaligen Zeitpunkt weder von der Beklagten noch vom Nds. Ministerium für Inneres und Sport im Wege der Beantwortung des Auskunftsersuchens der Kammer vorgetragen worden. Solche sind für die Kammer auch nicht ersichtlich.

b) Eine Änderung der Erlasslage ist nach Auffassung der Kammer erst durch die Vorläufige Niedersächsische Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 30. November 2005 sowie durch den Runderlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 2. März 2006 (Nds. MBl. Nr. 18/2006, S. 551) eingetreten.

c) Weder der Runderlass des Landes Niedersachsen vom 2. März 2006 noch die Vorl. Nds. VV-AufenthG sehen zur passrechtlichen Behandlung der schon seit Jahren in Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion eine Übergangsregelung vor.

Allerdings hat das Nds. Ministerium für Inneres und Sport mit an das Bundesministerium des Inneren und die Innenmministerien und -senatsverwaltungen der Länder gerichtetem Schreiben vom 13. Juli 2005 (Az.: 45.21-47100/1-1) eine Länderumfrage zur passrechtlichen Behandlung jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion initiiert, in der es heißt: ...

Das an die nachgeordneten Ausländerbehörden nachrichtlich übersandte Schreiben enthält den Hinweis, "dass unabhängig von dem Ergebnis der Umfrage keine Bedenken bestehen, wenn in den genannten Fällen zunächst ein Reiseausweis für Ausländer befristet auf ein Jahr ausgestellt und dabei darauf hingewiesen wird, dass eine Verlängerung nur erfolgen kann, wenn eine Verständigung auf ein bundesweit einheitliches solches Vorgehen erfolgt."

Nach Auffassung der Kammer besteht damit für die Ausländerbehörden des Landes Niedersachsen die Möglichkeit, in Anknüpfung an den Runderlass vom 07. Juni 2004, der die Ausstellung von Reisedokumenten nach § 15 i.V.m. 17 Abs. 3 Satz 2 DVAuslG vorsah, vorübergehend Reiseausweise für Ausländer an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion auszustellen, unabhängig davon, ob sie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthaltsV erfüllen. Insbesondere kommt es nicht auf die Frage an, ob es dem jüdischen Zuwanderer zumutbar ist, sich um die Ausstellung eines Nationalpasses des Herkunftsstaates zu bemühen, hieran mitzuwirken und die Behandlung des Antrags durch die Behörden des Herkunftsstaats nach dem Recht des Herkunftsstaates zu dulden (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthaltsV). Die Versagung des von der Klägerin wahlweise beantragten Reiseausweises für Ausländer durch die Beklagte mit Bescheid vom 16. Dezember 2005 hätte somit keinen Bestand, sofern die Kammer über den Hilfsantrag der Klägerin zu befinden hätte.

Unabhängig hiervon gibt das Schreiben des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 13. Juli 2005 zu erkennen, dass dem Ministerium der besondere ausländerrechtliche Status von jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 1. Januar 2005 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, und die hieraus abgeleitete passrechtliche Sonderbehandlung (vgl. dazu vorstehend 2.) b) ee) und ff)), durchaus bewusst sind, gleichwohl legt es sich ohne nähere Begründung dahingehend fest, dass dieser Personenkreis nunmehr wie "gewöhnliche" Ausländer passrechtlich nach den Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthV zu behandeln ist. Dabei verkennt es, dass durch die jahrelange emigrantenfreundliche Verwaltungspraxis bei den in Niedersachsen lebenden jüdischen Zuwanderern schutzwürdiges Vertrauen dahingehend geschaffen wurde, dass diese von Bemühungen um einen gültigen Nationalpass eines Nachfolgestaates der UdSSR dauerhaft freigestellt sind, sie stattdessen die Wahl zwischen der Ausstellung eines internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge oder aber eines Reisedokuments, nunmehr eines Reiseausweises für Ausländer als deutschem Passersatz haben.

d) Indes hindert bestehendes Vertrauen in eine stetige, gleichmäßige Verwaltungspraxis durch die Behörde grundsätzlich nicht daran, diese für die Zukunft zu ändern. Es entspricht nämlich auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass sowohl eine durch Verwaltungsvorschriften vorgegebene als auch eine rein tatsächliche Verwaltungsübung jederzeit aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden kann, auch wenn die Betroffenen hierdurch gegenüber der bisherigen Praxis schlechter gestellt oder benachteiligt werden (BVerwG, Urteil vom 28.08.1986, 2 C 5/84, Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 29; Urteil vom 08.04.1997, a.a.O.; Urteil vom 05.11.1998, 2 A 3/98, Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 116; m.w.N.). Eine Änderung der bisherigen Verwaltungspraxis kann beispielsweise sachlich gerechtfertigt sein, wenn hierdurch Fehlentwicklungen gegengesteuert werden soll oder aber bei zwischenzeitlich erkannten Rechtsverstößen (BVerwG, Urteil vom 08.04.1997, a.a.O.).

Sachgerechte Erwägungen, die für die passrechtliche Behandlung der bereits vor dem 1. Januar 2005 in Niedersachsen lebenden jüdischen Zuwanderer nach den allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthV streiten, hat die Beklagte nicht vorgebracht. Das hierauf gerichtete Auskunftsersuchen der Kammer an das Nds. Ministerium für Inneres und Sport ist unbeantwortet geblieben.

Das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes und damit auch der hierauf basierenden Aufenthaltsverordnung mit ihren passrechtlichen Bestimmungen zum 1. Januar 2005 rechtfertigt schließlich auch nicht die Annahme, die bisherige besondere passrechtliche Behandlung jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion durch die Länder müsse nunmehr aufgegeben und die Verwaltungspraxis ausschließlich an den Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthV ausgerichtet werden. Dies gilt jedenfalls für die bereits vor dem 1. Januar 2005 in Niedersachsen lebenden jüdischen Zuwanderer. Wie bereits vorstehend dargelegt (vgl. 2. b) gg)) hat diese Personengruppe ihre besondere ausländerrechtliche Stellung mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht verloren. Namentlich aus § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach begünstigende Maßnahmen wie z.B. die Befreiung von der Passpflicht, wirksam bleiben, lässt sich entnehmen, dass der Zwang jüdischer Zuwanderer zur Annahme von Nationalpässen der Nachfolgestaaten der UdSSR und die Nichtverlängerung deren deutscher Passersatzpapiere vom Gesetzgeber keinesfalls gewollt und damit nicht mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes begründet werden kann.

e) Da die Änderung der niedersächsischen Erlasslage durch Abkehr von der Ausstellung (bzw. Verlängerung) internationaler Reiseausweise für Flüchtlinge an jüdische Zuwanderer, die vor dem 1. Januar 2005 in Niedersachsen Aufnahme gefunden haben, mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht in Einklang steht, ist die Beklagte auch künftig gehalten, die Klägerin gemäß der bisherigen stetigen Verwaltungspraxis passrechtlich zu behandeln und ihren am 19. August 2003 ausgestellten internationalen Reiseausweis für Flüchtlinge für ein bis höchstens 2 Jahre (vgl. § 5 des Anhangs zur GFK sowie Ziffer 3.3.4.7 der Vorl. Nds. VV-AufenthG) zu verlängern.