VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 20.07.2006 - S4 V 307/06 - asyl.net: M8493
https://www.asyl.net/rsdb/M8493
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, Duldung, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Mitwirkungspflichten, Beweislast, Zurechenbarkeit, Sozialbehörde, Ausländerbehörde
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Gem. § 86 b Abs. 2 SGG ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.

Für das Begehren von Leistungen nach § 2 AsylbLG hat das OVG Bremen mit Beschluss vom 09.09.2005 (2 B 177/05) einen Anordnungsanspruch im Sinne des § 86 b Abs. 2 SGG unter Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung bejaht (vgl. z. B. B. v. 18.01.2005 - 2 B 10/05).

Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Kürzung auf die Leistungen nach § 3 AsylbLG liegen nach summarischer Prüfung nicht vor.

Die Antragsteller haben daher einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG, nachdem der Ablauf der 36 Monatsfrist unstreitig gegeben ist. Ihnen kann kein Rechtsmissbrauch hinsichtlich der Dauer ihres Aufenthalts vorgeworfen werden. Ihre fortlaufenden Duldungen beruhen seit Jahren auf ihrer ungeklärten Staatsangehörigkeit. Eine Abschiebung kommt daher nicht in Betracht. Die Unklärbarkeit ihrer Staatsangehörigkeit ist auch nicht auf fehlende Mitwirkung der Antragsteller zurück zu führen, so dass der Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Verhaltens schon im Ansatz unzutreffend ist. Rechtsmissbrauch setzt nach dem zitierten Beschluss des OVG Bremen vom 09.09.2005 "ein subjektiv vorwerfbares Verhalten" voraus. Ein solches Verhalten liegt nicht vor, wenn eine Rückkehr wegen des Verhaltens des Herkunftsstaates unmöglich ist. Dabei ist schon grundsätzlich die Ansicht der Ausländerbehörde, Staatenlosigkeit sei allein von den Antragstellern nachzuweisen, verfehlt. Das hat das Verwaltungsgericht Bremen im Urteil vom 19.06.2006 (4 K 2384/02) überzeugend dargelegt. Danach ist die materielle Beweislast nicht pauschal einer Seite aufzuerlegen, sondern nach den Umständen des Einzelfalls zu differenzieren (ebenso Bayerischer VGH Urt. v. 23.03.2006, 24 B 05.288,9 Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 14.03.2006, 18 E 924/04, Juris; VG Frankfurt/Main, Urt. v. 29.09.2005, 1 E 656/05). Bei der Frage der Erfüllung zumutbarer Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses im Rahmen des § 25 Abs. 5 S. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) stellen sich dieselben Fragen wie bei den Mitwirkungspflichten nach Asylbewerberleistungsgesetz. Nach der zitierten Rechtsprechung haben beide Seiten, der Ausländer und die Ausländerbehörde, Obliegenheiten. Der Ausländer muss an allen zumutbaren Handlungen mitwirken, die die Behörden von ihm verlangen, er muss aber auch eigenständig initiativ werden. Er muss seine eigenen Mittel zur Klärung der Vorfragen ausschöpfen (präzise Darstellung seiner persönlichen Verhältnisse, Kontaktaufnahme zu diplomatischen Vertretungen mit Vorlage vorhandener Papiere, ggf. zu Verwandten im Heimatland). Die Ausländerbehörde hat den Ausländer in konkreter und detaillierter Form darauf hinzuweisen, welche Mitwirkung von ihm verlangt wird. Und sie hat von sich aus das Verfahren weiter zu betreiben, die Betroffenen auf weitere, ihnen ggf. nicht bekannte Möglichkeiten aufmerksam zu machen, ihre oftmals überlegenden Kontakte und Kenntnisse einzubringen. Dass sie diesen Pflichten nachgekommen ist, hat die Behörde zu belegen. Die beschriebenen Obliegenheiten stehen im Verhältnis der Wechselseitigkeit. Wenn beide Seiten alles erfüllt haben, was von ihnen zu verlangen ist, ohne dass das Ausreisehindernis beseitigt werden konnte, wird dieses Hindernis regelmäßig einem Dritten zuzurechnen sein. Dann liegt kein vorwerfbares Verhalten des Ausländers vor. Die Beweislastverteilung folgt der Verteilung der Verantwortungs- und Verfügungssphären und der Beweisnähe der Beteiligten (VG Bremen, 4 K 2384/02 wie zitiert, mit weiteren Nachweisen), letztlich muss auf allgemeine Beweislastregeln zurückgegriffen werden.

Nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen hat die Behörde hier die Kürzungsvoraussetzungen zu beweisen. Die Stellungnahme der Ausländerbehörde zum angeblichen Rechtsmissbrauch der Antragsteller ist inhaltlich falsch. Es ergibt sich aus dem oben dargestellten Akteninhalt eindeutig, dass die deutsche Botschaft in Beirut bereits im Jahre 2002 mitgeteilt hat, dass eine Beschaffung von Dokumenten mangels dort fehlender Eintragungen über die Person (des Antragstellers zu 1.) nicht erfolgen könne.

Die unterstellte türkische Staatsangehörigkeit der Antragsteller fand auch nach langwierigen kriminalpolizeilichen Ermittlungen keinen Anhaltspunkt. Die Ausländerbehörde hatte also keinen Anlass, die Antragsteller am 03.11.2004 trotz allem erneut aufzufordern, Nachweise über ihre Identität vorzulegen bzw. aus dem Heimatland zu beschaffen, mit der Kürzung von Sozialleistungen zu drohen und eine entsprechende Mitteilung an die Sozialbehörden zu senden. Es ist auch unerfindlich, warum die deutsche Botschaft erneut wegen eines Registerauszugs angeschrieben werden sollte (Bl. 225 Ausländerakte).

Statt dessen ist davon auszugehen, dass ein subjektiv vorwerfbares Verhalten der Antragsteller im Hinblick auf ihre Pflicht zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht vorliegt. Dabei kann offen bleiben, ob die Begriffe des subjektiv vorwerfbaren Verhaltens und des Rechtsmissbrauchs deckungsgleich sind.

Von dem generellen Vertretenmüssen bestimmter Ausreisehindernisse geht die Ausländerbehörde offenbar seit dem 01.01.2005 vorliegend und in zahlreichen anderen Fällen aus, in dem die Betroffenen über eine Duldung verfügen. Häufig ergeht dann die Mitteilung, die Betroffenen hätten ihre Mitwirkungspflichten verletzt, obwohl dies nach Durchsicht der vorliegenden und auch vieler anderer Ausländerakten inhaltlich unzutreffend ist. Die Sozialbehörde stützt darauf Kürzungen der Sozialleistungen. Die Organisation der internen Abläufe zwischen der Antragsgegnerin und der Ausländerbehörde kann jedoch nicht zum Nachteil der Antragsteller gereichen. Treten daher bei der Ausländerbehörde - aus welchen Gründen auch immer - Verzögerungen hinsichtlich der erforderlichen Informationen der Antragsgegnerin über den ausländerrechtlichen Status der Betroffenen auf oder gibt es gehäuft Anhaltspunkte für unzutreffende Hinweise zum angeblichen Fehlen von Mitwirkung, so muss sich die Antragsgegnerin das zurechnen lassen. Es handelt sich bei beiden Behörden um solche der Stadtgemeinde Bremen (so bereits VG Bremen, B. v. 19.07.2005, S4 V 1255/05 und B. v. 28.07.2005, S4 V 1256/05).