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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 14.06.2006 - 2 BvR 626/06, 2 BvR - asyl.net: M8498
https://www.asyl.net/rsdb/M8498
Leitsatz:

Ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht höchstrichterlich geklärt, die auch nicht ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann, muss Prozesskostenhilfe gewährt werden (hier: Anwendbarkeit von § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem 1.1.2005 eingereiste oder in Deutschland geborene Kinder).

 

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Verfahrensrecht, Asylantrag, Antragsfiktion, Zuwanderungsgesetz, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Anwendungszeitpunkt, Beurteilungszeitpunkt, Altfälle
Normen: GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; AsylVfG § 14a Abs. 2
Auszüge:

Ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht höchstrichterlich geklärt, die auch nicht ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann, muss Prozesskostenhilfe gewährt werden (hier: Anwendbarkeit von § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem 1.1.2005 eingereiste oder in Deutschland geborene Kinder).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die nach Erschöpfung des Rechtswegs (§ 80 AsylVfG) eingelegten und auch im Übrigen zulässigen Verfassungsbeschwerden werden zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie sind offensichtlich begründet.

1. Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl.BVerfGE 81, 347 <356> m.w.N., stRspr). Dies schließt es nicht aus, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (BVerfG, a.a.O., S. 357).

Zwar muss Prozesskostenhilfe nicht immer schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Die Ablehnung der Gewährung kann ungeachtet des Fehlens einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn die Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellte Auslegungshilfen ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann (vgl.BVerfGE 81, 347 <359>). Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl. BVerfG, a.a.O.). Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2004 - 1 BvR 596/03 -, NJW 2004, S. 1789 f. m.w.N., und vom 7. Mai 2002 - 1 BvR 1699/01 -, VIZ 2002, S. 594 -; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2001 - 2 BvR 569/01 -, DVBl. 2001, S. 1748 ff.).

2. Gemessen an diesen Grundsätzen halten die angegriffenen, Prozesskostenhilfe versagenden Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung offensichtlich nicht stand. Das Verwaltungsgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Klagen überspannt. Die entscheidungserhebliche Frage, ob § 14 a Abs. 2 AsylVfG auch auf vor dem 1. Januar 2005 geborene oder eingereiste Kinder Anwendung findet, war zum damaligen Zeitpunkt weder in der Rechtsprechung des zuständigen Obergerichts noch gar in der des Bundesverwaltungsgerichts geklärt und konnte, wie sich in der ausgeprägten Uneinheitlichkeit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zeigt (vgl. einerseits Hess. VGH, Beschluss vom 3. August 2005 - 4 UZ 1961/05.A -, VG Gießen, Beschluss vom 17. August 2005 - 8 G 1802/05.A -, VG Gera, Beschluss vom 15. Juni 2005 - 1 E 20074/05 Ge -, VG Lüneburg, Beschluss vom 21. Juni 2005 - 2 B 24/05 - , VG Minden, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 11 L 359/05.A -, VG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2005 - A 4 K 10611/05 -, VG Stuttgart, Urteil vom 15. September 2005 - A 8 K 12592/05 -, VG Augsburg, Urteil vom 14. Februar 2006 - Au 6 K 05.30432 -; andererseits OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 1. Februar 2006 - 3 B 35.05 -, VG Oldenburg, Beschluss vom 22. Juni 2005 - 11 B 2465/05 -, VG Braunschweig, Urteil vom 8. Juli 2005 - 6 A 151/05 -, VG Hannover, Beschluss vom 16. September 2005 - 6 B 5284/05 -, VG Göttingen, Beschlüsse vom 17. März 2005 - 3 B 272/05 - und vom 24. November 2005 - 2 B 507/05 -, sowie Urteil vom 18. Januar 2006 - 2 A 506/05 -, VG Düsseldorf, Urteil vom 20. Februar 2006 - 1 K 5590/05.A -, VG des Saarlandes, Beschluss vom 11. November 2005 - 10 F 30/05.A -, VG Karlsruhe, Urteil vom 7. Juni 2005 - A 11 K 10380/05 -, VG Sigmaringen, Urteil vom 17. November 2005 - A 2 K 10331/05 -, alle zitiert nach JURIS) nicht als einfach und eindeutig beantwortbar erachtet werden. Den Eilanträgen der Beschwerdeführer hat das Verwaltungsgericht denn auch mit der Begründung stattgegeben, der zeitliche Anwendungsbereich des § 14 a Abs. 2 AsylVfG müsse einer Überprüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die fast gleichzeitige Verweigerung von Prozesskostenhilfe für eben dieses Hauptsacheverfahren ist nicht nachvollziehbar. Sie verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.

3. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß und sind daher aufzuheben. Von ihrer Aufhebung ist auch nicht deshalb abzusehen, weil das zuständige Obergericht die Frage zwischenzeitlich in einem den Beschwerdeführern nachteiligen Sinne geklärt hat (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 15. März 2006 - 10 LB 7/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de). Aus diesem Umstand folgt nicht, dass das Verwaltungsgericht im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung die begehrte Prozesskostenhilfe nunmehr verweigern müsste oder auch nur könnte. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist nach überwiegender Ansicht der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 166 Rn. 14a m.w.N.). Auch wenn man der Gegenmeinung (vgl. z.B. OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ-RR 1994, S. 123) folgt, führt das zu keinem anderen Ergebnis. Denn entscheidend ist angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung der Instanzgerichte, dass jedenfalls eine Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht weiter aussteht. Damit liegt - wie sich auch daran zeigt, dass das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem oben genannten Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen hat - eine die Versagung von Prozesskostenhilfe rechtfertigende gerichtliche Klärung noch nicht vor.