VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 21.06.2006 - 6 A 3853/03 - asyl.net: M8505
https://www.asyl.net/rsdb/M8505
Leitsatz:

Die Ausweisung wegen Falschangaben (hier: Verschweigen der türkischen Staatsangehörigkeit durch Libanesen) setzt den Beweis des Vorsatzes voraus; allein der Verdacht genügt nicht; eine Aufenthaltsbefugnis auf Grundlage der Bleiberechtsregelung 1990 ist nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu verlängern.

 

Schlagwörter: D (A), Libanon, Türkei, Ausweisung, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Falschangaben, Straftat, Strafrecht, Identitätstäuschung, Staatsangehörigkeit, Asylverfahren, Vorsatz, Betrug, Sozialhilfebetrug, Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Bleiberechtsregelung 1990, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, Erlasslage, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, atypischer Ausnahmefall
Normen: AuslG § 46 Nr. 2; AuslG § 92 Abs. 2 Nr. 2; AuslG a. F. § 92 Abs. 1 Nr. 7; AuslG 65 § 47 Abs. 1 Nr. 6; StGB § 263; AufenthG § 101 Abs. 2; AuslG § 99; AuslG § 32; AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 5
Auszüge:

Die Ausweisung wegen Falschangaben (hier: Verschweigen der türkischen Staatsangehörigkeit durch Libanesen) setzt den Beweis des Vorsatzes voraus; allein der Verdacht genügt nicht; eine Aufenthaltsbefugnis auf Grundlage der Bleiberechtsregelung 1990 ist nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu verlängern.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Bescheid des Beklagten vom B. Oktober 2001 ist in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Hannover vom 6. August 2003 rechtswidrig.

Für die Beurteilung der Frage, ob eine Ausweisung mit dem Recht in Einklang steht, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, hier des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2003, abzustellen.

Die Ausweisungsverfügung des Beklagten, die auch nach der am 1. Januar 2005 erfolgten Änderung des Aufenthaltsrechts mit dem In-Kraft-Treten des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wirksam bleibt (§ 102 Abs. 1 AufenthG) stützt sich auf § 45 Abs. 1 in Verbindung mit § 46 Nr. 2 AuslG des Ausländergesetzes (AuslG), wonach unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen des Ausländers und seiner Familienangehörigen (§ 45 Abs. 2 AuslG) ausgewiesen werden kann, wer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat.

Soweit der Beklagte die Ausweisung auf den Ausweisungstatbestand des § 46 Nr. 2 AuslG gestützt und dazu im angefochtenen Bescheid die Auffassung vertreten hat, der Kläger habe hinsichtlich seiner Personalien und seiner Herkunft unrichtige Angaben gemacht und damit den Straftatbestand des § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG erfüllt, liegt ein Rechtsverstoß des Klägers nicht vor.

Hinsichtlich der sowohl von dem Beklagten als von der Widerspruchsbehörde als tragender Ausweisungsgrund angenommenen Täuschung des Klägers über seine Identität durch Verwendung von "Alias-Personalien" scheitert die Annahme eines Rechtsverstoßes schon daran, dass der Kläger insoweit weder im Asylverfahren noch gegenüber den zuständigen Ausländerbehörden unrichtige noch unvollständige Angaben gemacht hat.

Die Begründung der angefochtenen Bescheide zeigt, dass der Beklagte und die Widerspruchsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe Identität und Staatsangehörigkeit undifferenziert verwenden und deshalb unzulässig gleichsetzen. Im Unterschied zur Identität berührt die Staatsangehörigkeit nicht die Merkmale, sondern die rechtlichen Eigenschaften einer Person. Das wird daran deutlich, dass es nichts an der Identität einer Person ändert, wenn diese ihre Staatsangehörigkeit verliert, eine weitere hinzugewinnt oder nie eine Staatsangehörigkeit besessen hat, vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG.

Die Identität eines Menschen wird durch seine unveränderlichen Merkmale geprägt, insbesondere seine Abstammung und seine Herkunft, diese ergänzt durch seinen amtlichen Namen. Dies kommt in den Regelungen der §§ 41 Abs. 1 AuslG und 49 Abs. 2 AufenthG zum Ausdruck, indem dort der Begriff der Identität mit dem der Person gleichgesetzt wird. Der Kläger hat im Libanon gelebt und ist dort unter einem amtlich geführten Namen registriert gewesen. Danach handelt es sich bei ihm um ..., geboren im Jahre 1940, der als Sohn von ... und ... abstammt. Dieses ist belegt durch den libanesischen Reiseausweis, der dem Kläger am 23. Januar 1979 in Beirut ausgestellt und der zunächst im Libanon und sodann, zuletzt bis zum 25. Oktober 1995, von der Botschaft des Libanon erneut worden ist.

An der so begründeten Identität des Klägers haben soweit ersichtlich zu keiner Zeit Zweifel bestanden, so dass sich eine Täuschungshandlung des Klägers in der Gestalt der Verwendung von "Alias-Personalien" ausschließen lässt.

Die Ausweisungsverfügung des Beklagten lässt sich auch nicht rechtsfehlerfrei darauf stützen, dass ein Ausweisungsgrund in Gestalt eines Rechtsverstoßes gegen § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG vorliege, weil der Kläger im Asylverfahren und gegenüber den zuständigen Ausländerbehörden seine türkische Staatsangehörigkeit verschwiegen bzw. seine Staatsangehörigkeit gegenüber der Ausländerbehörde überwiegend mit "ungeklärt" angegeben habe. Es lässt sich nicht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts feststellen, dass der Kläger im Zusammenhang mit seinen Angaben zur Staatsangehörigkeit gegen Strafvorschriften verstoßen hätte:

Ebenso wie § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG begründeten die Tatbestände der §§ 47 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1965 sowie 92 Abs. 1 Nr. 7 (a.F.) bzw. 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG nicht schon dann die Strafbarkeit eines Ausländers, wenn sich dessen Angaben gegenüber einer Ausländerbehörde zu seiner Staatsangehörigkeit nachträglich als unrichtig oder unvollständig erwiesen. Vielmehr macht die Umschreibung der Tatumstände mit den Worten "um für sich oder einen anderen Urkunden für die Einreise oder den Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu beschaffen" bzw. "um für sich oder einen anderen eine Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung zu beschaffen" deutlich, dass die Strafvorschriften subjektive Tatbestände enthalten, die erfüllt sein müssen, um die Strafbarkeit des Handelns zu begründen. Die §§ 47 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1965 sowie 92 Abs. 1 Nr. 7 (a.F.) bzw. 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG setzen danach voraus, dass der Täter im Sinne einer Absicht zielgerichtet handelt. Die Absicht als Bestandteil des subjektiven Straftatbestands kennzeichnet dabei zugleich das gemäß § 15 StGB für die Strafbarkeit vorausgesetzte vorsätzliche Handeln. Hierfür ist wie bei allen Absichtsdelikten auch hinsichtlich der Beschaffung von Urkunden bzw. Aufenthaltsgenehmigungen oder Duldungen ein direkter Vorsatz 1. Grades erforderlich. Das bedeutet, dass nicht schon Täter einer Straftat nach den §§ 47 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1965 sowie 92 Abs. 1 Nr. 7 (a.F.) bzw. 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ist, wer um die Verwirklichung des Straftatbestandes weiß und den Eintritt des Erfolgs seiner Tat in Kauf nimmt. Vielmehr macht sich nur derjenige Ausländer strafbar, dessen zielgerichtete Absicht zur Beschaffung von Urkunden bzw. Aufenthaltsgenehmigungen oder Duldungen bei dem Machen oder Benutzen unrichtiger oder unvollständiger Angaben nach außen sichtbar zu Tage tritt. Da es sich bei den Straftaten nach § 92 Abs. 1 Nr. 7 (a.F.) bzw. § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. z.B. OVG Münster, B. vom 22.6.2004, AuAS 2004 S. 267 ff.: OLG Karlsruhe, B. vom 27.1.1998, NVwZ-RR 1999 S. 73 f.; jeweils m.w.N.) um abstrakte Gefährdungsdelikte handelt, ist es dabei ohne Belang, ob das Machen oder Benutzen unvollständiger Angaben objektiv geeignet ist, die Absicht des Täters erfolgreich zu verwirklichen. Entscheidend ist nur, dass das Streben des Täters nach seiner subjektiven Vorstellung auf den Eintritt des Taterfolgs gerichtet ist.

Wie bei allen anderen Straftatbeständen, die in ihrem subjektiven Tatbestand eine dem direkten Vorsatz entsprechende Absicht des Täters voraussetzen, muss auch die Absicht zur Beschaffung von Urkunden, bzw. Aufenthaltsgenehmigungen oder Duldungen nach den §§ 47 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1965 sowie 92 Abs. 1 Nr. 7 (a.F.) bzw. 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG im Strafverfahren tatrichterlich festgestellt werden. Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren bedeutet dies, dass die Handlungsabsicht eines Ausländers, dem ein Verstoß gegen diese ausländerrechtlichen Strafvorschriften vorgeworfen wird, nach § 108 Abs. 1 VwGO zur vollen Überzeugungsgewissheit des Verwaltungsgerichts feststehen muss. Ein bloßer Verdacht reicht dagegen nicht aus, um im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen zu gelangen.

Dem vorliegenden Sachverhalt lassen sich weiterhin keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass dem Kläger bis zur Bekanntgabe der Ermittlungsergebnisse der Ausländerbehörde bewusst war, in rechtlicher Hinsicht die türkische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Dasselbe gilt für das erforderliche Bewusstsein, dies verschweigen bzw. die Staatsangehörigkeit mit "ungeklärt" angeben zu wollen, um sich ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern oder zumindest ihre Abschiebung zu verhindern. Handlungen oder Erklärungen des Klägers, seiner Ehefrau, seiner Kinder oder von Angehörigen, die als äußere Beweisanzeichen auf ein entsprechendes (inneres) Tatbewusstsein bei dem Kläger hindeuten könnten, liegen nicht vor.

Der Kläger und seine Familienangehörigen haben bisher zu ihrer tatsächlichen Herkunft keine widersprüchlichen Angaben gemacht und diesbezüglich auch keine falschen oder gefälschten Nachweise in ihren Angelegenheiten benutzt. Wie bereits ausgeführt, haben der Kläger und seine Ehefrau weder Alias-Personalien verwendet noch andere unzutreffende Angaben zu ihrer Identität und der ihrer Kinder gemacht. Vielmehr haben sie sich mit amtlichen libanesischen Reiseausweisen zu erkennen gegeben und dabei ihre Personalien so angegeben, wie sie im Libanon behördlich erfasst und registriert worden waren.

Die vorliegende Sachlage bedeutet zugleich, dass dem Kläger nicht nachgewiesen werden kann, die ihm bis zum Erlass der Ausweisungsverfügung nach Maßgabe des (ehemaligen) Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) gewährten Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in betrügerischer Absicht bezogenen zu haben. Auch der von dem Beklagten als zweiter Ausweisungsgrund herangezogene Sozialhilfebetrug setzt nach § 263 Abs. 1 StGB sowohl eine Täuschungshandlung als auch einen subjektiven Tatbestand in der Gestalt einer nach außen sichtbar werdende Absicht, sich oder einem Dritten täuschungsbedingt einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, voraus.

Das Gericht sieht auch keinen Anlass, insoweit den Sachverhalt durch Vernehmung von sich in Deutschland aufhaltenden Verwandten des Klägers weiter aufzuklären, auch wenn sich dabei möglicherweise etwas in Bezug auf das Verhalten des Klägers und etwaige Kenntnisse einer türkischen Staatsangehörigkeit ergeben könnte. Solange keinerlei greifbare Anhaltspunkte für den Erfolg derartiger Ermittlungen vorliegen, würde sich ein entsprechendes Vorgehen des Gerichts als reiner Ausforschungsbeweis darstellen.

Soweit der Kläger die Verpflichtung des Beklagten zur Verlängerung seiner Aufenthaltsbefugnis begehrt, ist die Klage ebenfalls begründet.

Die Frage, ob der jetzt in der Gestalt einer Aufenthaltserlaubnis zu erteilende Aufenthaltstitel des Klägers im Anschluss an seine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden darf oder zwingend versagt werden muss, beurteilt sich nach den Regelungen des mit dem Zuwanderungsgesetz (vom 30.4.2004; BGBl. 1 S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und der übrigen, im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Rechtslage (vgl. BVerwGE 89, 296 ff.; InfAuslR 1992 S. 205 = NVwZ 1992 S. 676, m.w.N.).

Die danach notwendige Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Rechtsänderungen hat nicht zur Folge, dass der dem Kläger infolge der Bleiberechtsregelung 1990 als Aufenthaltserlaubnis erteilte und unter der zeitlichen Geltung des am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (AuslG) nach § 94 Abs. 3 Nr. 3 AuslG als Aufenthaltsbefugnis fortgeltende Aufenthaltstitel jetzt nicht mehr verlängert werden könnte. Zwar enthält das AufenthG eine dem § 94 Abs. 3 Nr. 3 AuslG vergleichbare Regelung nicht. Auch hat der Gesetzgeber des Zuwanderungsgesetzes die Übergangsregelung des § 99 Abs. 1 Satz 1 AuslG, wonach in den Fällen des § 94 Abs. 3 Nr. 3 AuslG die Aufenthaltsbefugnis abweichend von § 34 Abs. 2 verlängert werden konnte, obwohl die Abschiebungs- und Ausreisehindernisse inzwischen weggefallen waren, nicht in das AufenthG übernommen.

Daraus folgt aber nicht, dass der Aufenthaltszweck, welcher der dem Kläger im Jahre 1990 erteilten Aufenthaltserlaubnis zugrunde lag, jetzt nicht mehr vorgesehen wäre. Vielmehr folgt aus der Überleitungsregelung des § 101 Abs. 2 AufenthG, dass mit dem In-Kraft-Treten des neuen Aufenthaltsrechts alle aufgrund des bisherigen Rechts erteilten befristeten Aufenthaltsgenehmigungen einen ihrem Erteilungszweck entsprechenden Aufenthaltstitel im AufenthG finden. Dabei entsprechen die Aufenthaltsbefugnisse, die aufgrund der zu den Übergangsfällen des § 99 Abs. 1 Satz 1 AuslG nach den §§ 32 und 99 Abs. 2 AuslG ergangenen Verwaltungsvorschriften der Länder verlängert worden sind, den heute nach § 23 Abs. 1 AuslG vorgesehenen Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen. § 23 Abs. 1 AufenthG entspricht nicht nur in seinem Wortlaut, sondern auch mit seiner Zielsetzung weitgehend der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Regelung des § 32 AuslG. Hieran orientiert sich auch die tatsächliche Verwaltungspraxis in Niedersachsen (vgl. Nr. 102.2.0 und 102.1.1.3 der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - Vorl. Nds. VV-AufenthG -).

Die Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis des Klägers als ein ihr entsprechender Aufenthaltstitel nach § 23 Abs. 1 AufenthG scheitert auch nicht daran, dass es gegenwärtig eine den Personenkreis ehemaliger Asylbewerber aus dem Libanon betreffende Anordnung des Nds. MI zu § 23 Abs. 1 AufenthG nicht gibt.

Dies würde dem Willen des Gesetzgebers, die nach § 32 Abs. 1 AuslG aus humanitären Gründen erteilten Aufenthaltsbefugnisse gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG als Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 Abs. 1 AufenthG fortgelten zu lassen, widersprechen. Vielmehr gibt die gesetzlich angeordnete Fortgeltung dieser Aufenthaltstitel nur dann einen Sinn, wenn diese nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 AufenthG ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend auch nach Ablauf ihrer Gültigkeit verlängert werden.