LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005 - L 7 AY 40/05 - asyl.net: M8507
https://www.asyl.net/rsdb/M8507
Leitsatz:

Eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts nach § 2 Abs. 1 AsylbLG kommt auch in Betracht, wenn die Ausreise aktuell unmöglich ist; rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts durch Falschangaben im Asylverfahren, nicht jedoch durch Verweigerung der freiwilligen Ausreise.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Asylantrag, Falschangaben, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts nach § 2 Abs. 1 AsylbLG kommt auch in Betracht, wenn die Ausreise aktuell unmöglich ist; rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts durch Falschangaben im Asylverfahren, nicht jedoch durch Verweigerung der freiwilligen Ausreise.

(Amtlicher Leitsatz)

Die Kläger haben keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII mit Wirkung ab 01. Februar bis 09. Mai 2005.

Anders als die noch bis zum 31. Dezember 2004 geltende Regelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG, wonach eine leistungsrechtliche Besserstellung dann in Betracht kam, wenn sowohl einer freiwilligen Ausreise als auch dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegenstehende Gründe vorliegen mussten, ist nach der Neuregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG entscheidend, ob die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst wurde. Das bedeutet, dass nach der Neuregelung für die Frage der leistungsrechtlichen Besserstellung ohne rechtliche Bedeutung ist, ob tatsächliche oder rechtliche Gründe einer Beendigung des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet entgegenstehen; rechtlich maßgebend ist allein, ob die Dauer des Aufenthalts von dem Leistungsberechtigten rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst worden ist. Erhöhte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. dem SGB XII sind danach ausgeschlossen, wenn eine Ausreise aus dem Bundesgebiet anderenfalls zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre, also ein kausaler Zusammenhang zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und der Beendigung des Aufenthalts besteht. Eine Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts in diesem Sinn ist indes nicht allein dann anzunehmen, wenn eine Ausreise des Leistungsberechtigten zum konkreten Zeitpunkt der Entscheidung über den Leistungsantrag möglich ist, d. h. keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, sondern auch dann, wenn eine Ausreise aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, wie z. B. im Fall der Kläger aufgrund der vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung aus humanitären Gründen, nicht in Betracht kommt. In derartigen Fällen besteht wegen der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bestehenden Ausreisehindernisse zwar kein kausaler Zusammenhang zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Leistungsberechtigten und der Ausreisemöglichkeit zum konkreten Zeitpunkt. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten in dem o. g. Sinn ist indes generell geeignet, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen. Es kommt insoweit nicht darauf an, dass sich die Verlängerung bereits realisiert hat oder ob der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist.

Insbesondere aus dem Wortlaut der Regelung aber auch aus ihrem o. g. Zweck ist zu schließen, dass es dabei auf die gesamte Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet ankommt und nicht etwa nur z. B. auf die Dauer des Aufenthalts nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags an (so bereits der Beschluss des Senats vom 19.08.2005 - L 7 AY 12/05 ER -).

Ob ein Verhalten des Ausländers als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu werten ist, ist unter Berücksichtigung des Zwecks der Regelung zu entscheiden. Weil die Regelung nach dem offenkundigen Willen des Gesetzgebers die Regelung des Art. 16 der "Richtlinien" umsetzen soll, ist diese zur Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG heranzuziehen (Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG S. 2005, NVWZ 2005 S. 388 f, 389). Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst a) können die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile einschränken oder entziehen, wenn ein Asylbewerber ohne Genehmigung der zuständigen Behörde seinen zugewiesenen Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten nicht nachkommt oder wenn er im gleichen Mitgliedstaat bereits einen Antrag gestellt hat. Daraus ist zu schließen, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG immer dann anzunehmen ist, wenn das Verhalten erkennbar der Verfahrensverzögerung und somit der Aufenthaltsverlängerung dient, obwohl eine Ausreise möglich und zumutbar wäre (Herbst, a.a.O., Rdnr. 26). Weitere Auslegungskriterien für die Entscheidung der Frage rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind unter rechtsystematischen Gesichtspunkten zudem der Regelung des § 1a AsylbLG zu entnehmen. Diese Regelung sieht Leistungseinschränkungen im Falle leistungsmissbräuchlicher Einreiseabsichten und missbräuchlicher Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen aus vom Leistungsberechtigten zu vertretenden Gründen vor (Hohm, a.a.O., 390).

Legt man diese Erwägungen zugrunde, haben die Kläger die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach § 2 Abs. 1 AsylbLG im Sinn eines subjektiv vorwerfbaren Fehlverhaltens beruht in dem hier zu entscheidenden Verfahren allerdings nicht darauf, dass eine freiwillige Ausreise der Kläger möglich wäre, wie die Beklagte meint. Die Kläger haben die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet hier indes rechtsmissbräuchlich beeinflusst, indem sie zur Begründung ihres Asylantrags angegeben haben, Kosovo-Albaner zu sein.