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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.01.2006 - 6 UE 489/04.A - asyl.net: M8519
https://www.asyl.net/rsdb/M8519
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Folgeantrag, neue Sachlage, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, subjektive Nachfluchtgründe, Fernsehen, Artikel, Leserbriefe, Zeitschriften, Özgür Politika, Mesopotamya-TV, MEDYA-TV, PKK, KADEK, Sympathisanten, Suchvermerk, Personenstandsregister, Fahndungslisten, Situation bei Rückkehr, Strafverfahren, Grenzkontrollen
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51; GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die nunmehr zu treffende Entscheidung in der Sache fällt jedoch zu Ungunsten der Kläger zu 1) und 2) aus, da sie keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte haben.

Soweit sich die Kläger zu 1) und 2) auf ihre exilpolitischen Aktivitäten berufen, dürfte eine Anerkennung als Asylberechtigte nach § 28 Abs. 1 AsylVfG bereits daran scheitern, dass es sich um unbeachtliche, selbst geschaffene subjektive Nachfluchtgründe handelt.

Selbst wenn die neueren exilpolitischen Aktivitäten nicht als unbeachtlich anzusehen wären, würden weder die "Fernsehauftritte" der Kläger zu 1) und 2) noch die unter ihren Namen verfassten Zeitungsartikel und Leserbriefe in verschiedenen PKK-nahen Publikationen die Annahme rechtfertigen, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei ihrer Rückkehr in die Türkei politischen Verfolgungsmaßnahmen, insbesondere einer politisch motivierten Strafverfolgung ausgesetzt sein könnten.

Maßgeblich ist jedoch die tatsächliche Strafpraxis und danach erscheint ein Vorgehen gegen die Kläger zu 1) und 2) wegen ihrer Äußerungen eher unwahrscheinlich; dies auch dann, wenn man unterstellt, dass neben Publikationen wie der "Özgür Politika" auch Sendungen des Senders Mesopotamya-TV von den türkischen Behörden ausgewertet werden, da dieser zwar möglicherweise einen niedrigeren Bekanntheitsgrad, aber letztlich die gleiche Zielrichtung wie MEDYA-TV hat, welcher als Propagandasender der PKK bzw. nunmehr KADEK gilt. Bei vergleichbaren Äußerungen in MEDYA-TV (Sympathiebekundungen für die PKK, ehrenvolle Anrede des PKK-Führers Öcalan, Vorwurf eines Massakers durch den türkischen Staat) hat die Sachverständige Dr. Tellenbach in einem Gutachten an das Verwaltungsgericht Stuttgart vom 17. April 2004 dargelegt, dass zwar theoretisch eine Bestrafung bei der Rückkehr in die Türkei bei einem solchen Fall nicht auszuschließen, in der Realität aber wenig wahrscheinlich ist. Danach sind propagandistische Aktionen von solch relativ geringem Gewicht häufig und die Strafverfolgungsorgane schon aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage, gegen alle einzuschreiten. Dies wird wiederum durch das Auswärtige Amt bestätigt, wonach selbst nach der früheren Gesetzeslage und Strafpraxis, die eine großzügige Auslegung und Heranziehung einfachgesetzlicher Strafrechtsbestimmungen zur Beschränkung der Meinungsfreiheit ermöglichten, die Zahl der entsprechenden Anklagen und vor allem der Verurteilungen bereits 2003 und 2004 drastisch zurückgegangen sind und es mittlerweile nur noch in 10 % der angeklagten Fälle zu Verurteilungen kommt (Lagebericht vom 11.11.2005, S. 11 und 21 bis 22). Exilpolitische Aktivitäten, unter anderem auch Meinungskundgaben wie im vorliegenden Fall, führen nur bei Personen zur Gefahr einer Strafverfolgung, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind. Die türkischen Strafverfolgungsbehörden haben in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.11.2005, S. 27).

Vor diesem Hintergrund sind die von den Klägern zu 1) und 2) getätigten Äußerungen nicht als geeignet anzusehen, in der Türkei eine Strafverfolgung nach sich zu ziehen. Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht verkannt werden, dass die Kundgabe möglichst plakativer Äußerungen von zahlreichen kurdischen Asylbewerbern gezielt lanciert wird, um für ihr Asylverfahren etwas vorweisen zu können, aus dem sich eine vermeintliche Gefährdung ergeben soll. Es ist davon auszugehen, dass dem türkischen Staat diese Hintergründe und Zusammenhänge auch durchaus bekannt sind und er entsprechend zu differenzieren weiß (Dr. Tellenbach an VG Stuttgart vom 17.04.2004). Dies passt wiederum auch mit der bereits dargestellten Erkenntnis zusammen, dass entsprechende Verfahren hauptsächlich gegen herausgehobene Funktionsträger oder sonstige exponierte Personen eingeleitet werden.

Eine Gefährdung des Klägers zu 1) vermag sich auch nicht aus den in diesem Verfahren vorgelegten und von dem Auswärtigen Amt auf Beweisbeschluss des Senats hin auf ihre Echtheit überprüften Unterlagen zu ergeben. Allein aus dem nach Lage der Dinge wohl echten Suchvermerk im Personenstandsregister ergibt sich keineswegs, dass gegen den Kläger landesweit etwas Relevantes und Aktuelles vorliegt. Die Nachforschungen des Auswärtigen Amtes haben nämlich ergeben, dass der Kläger zu 1) weder im zentralen Fahndungsregister eingetragen ist, noch bei den hierfür in Betracht kommenden Oberstaatsanwaltschaften ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wird.

Lediglich vorstellbar erscheint weiterhin, dass die Gendarmerie "auf eigene Faust" und ausschließlich auf lokaler Ebene unterhalb der Schwelle eines offiziellen Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger zu 1) einen Verdacht hegt bzw. gehegt und deshalb zu dem damaligen Zeitpunkt nach ihm gesucht hat. Dem kann aber jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Bedeutung mehr im Sinne einer landesweiten Gefährdung des Klägers zu 1) zukommen, da ein möglicher Verdacht der lokalen Gendarmerie gegen den Kläger zu 1), wenn er denn überhaupt noch bestehen sollte, jedenfalls nicht Eingang in (noch aktuelle) offizielle Ermittlungen oder gar Strafverfahren gefunden hat und der Kläger zu 1) deshalb auch nach den Gründen bedarf es auch keiner weiteren Nachforschungen mehr, ob das Schreiben der Gendarmeriekommandantur entgegen dem anhand der Ausführungen des Auswärtigen Amtes begründeten Anschein vielleicht doch echt sein könnte. Selbst wenn das Schreiben echt wäre und es sich dabei auch inhaltlich nicht etwa um eine bloße Gefälligkeitsbescheinigung ohne realen Hintergrund handeln sollte (vgl. zu dieser Möglichkeit: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.11.2005, S. 42), bleibt es dabei, dass im Hinblick auf die in dem Schreiben in Bezug genommenen Vorgänge im Jahre 1993 jedenfalls kein offizielles Verfahren gegen den Kläger zu 1) anhängig ist und nach ihm gerade nicht landesweit gesucht wird.

Der Kläger muss daher auch nicht befürchten, dass er anlässlich der routinemäßigen Überprüfungen bei der Einreisekontrolle einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterzogen und/oder an die Gendarmeriekommandantur überstellt wird, wenn Erkenntnisse der Gendarmeriekommandantur über den Kläger aufgrund einer möglichen Rückfrage der mit der Einreisekontrolle betrauten Personen bekannt werden sollten.